Ostukraine: Ein Debakel für Kiew

A wounded Ukrainian soldier looks through a window as he arrives to a hospital in Artemivsk
A wounded Ukrainian soldier looks through a window as he arrives to a hospital in Artemivsk(c) REUTERS (GLEB GARANICH)
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Die prorussischen Rebellen festigen mit der Eroberung des Verkehrsknotenpunkts Debaltsewo ihre Herrschaft. Was ist das Minsker Friedensabkommen noch wert?

In langen Kolonnen aus Panzern und Militärlastkraftwagen trat die ukrainische Armee am Mittwoch ihren Rückzug aus dem umkämpften Debaltsewo an. Bis zu 2000 Soldaten sollen im knapp 50 Kilometer entfernten Artjomowsk eingetroffen sein. Manche halten die ukrainische Fahne hoch, andere winken, die Gesichter dreckig. Mindestens 40 haben die Schlacht um die Stadt nicht überlebt. Im Hof des Artjomowsker Leichenschauhauses reihen sich Särge aus hellem Holz aneinander. In die Spitäler der Kleinstadt wurden mehr als 100 Verwundete eingeliefert. Der Rückzug fand über die einzige Landstraße statt, die für die ukrainische Armee offen geblieben war, nachdem die Versorgungslage der Armee- und Freiwilligenverbände sich in den vergangenen Tagen zugespitzt hatte. 80 Prozent der in Debaltsewo Stationierten sollen in Sicherheit sein.

Die russische Militärplanung und Unterstützung war in Debaltsewo sehr offensichtlich gewesen. Zurückgekehrte Ukrainer präsentierten Abzeichen russischer Soldaten. Alexander Lentsow, ein General der russischen Streitkräfte, soll die Offensive der russischen und prorussischen Kämpfer koordiniert haben. „Gegen die modernen Waffen des Feindes hatten wir keine Chance“, erklärte ein ukrainischer Rückkehrer.

„Geplanter und organisierter Rückzug“

Der ukrainische Präsident, Petro Poroschenko, wollte es nicht in solch drastischen Worten ausgedrückt wissen. Bei einer kurzfristig anberaumten Visite im Krisengebiet versuchte der Präsident, gekleidet in Militäruniform, die Schlappe schönzureden. Er sprach von einem „geplanten und organisierten Rückzug“. Am Abend wurde Poroschenko in Kiew zur Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates erwartet. In der Ukraine wird über die Einführung des Kriegsrechts diskutiert, das die Wirtschaft den Kriegszielen im Osten unterordnen würde.

An Debaltsewo sind die Verhandlungen in Minsk in der Vorwoche beinahe gescheitert, die strittige Frage ist letztlich ausgeklammert worden. Doch die andauernden Kampfhandlungen in Debaltsewo drohten die Deeskalationsmaßnahmen von Minsk II sogleich zu unterminieren. Eine Feuerpause hat es dort – anders als in anderen Abschnitten, wo sich die Lage seit Samstagnacht beruhigt hat – nie gegeben. Die Separatisten haben offen erklärt, Debaltsewo einnehmen zu wollen, die Ukrainer anfangs einen Abzug abgelehnt. Es war klar: Der Stärkere würde siegen.

Mit der Aufgabe von Debaltsewo verliert Kiew einen strategischen Vorteil, wie Wolodymyr Gorbatsch vom Kiewer Institut für Euro-Atlantische Zusammenarbeit im Gespräch mit der „Presse“ sagt: „Mit der Kontrolle von Debaltsewo war die Hoffnung auf Konfliktregulierung verbunden. Jetzt geht es eindeutig in Richtung Einfrieren.“ Denn über Debaltsewo verläuft nicht nur der Straßenverkehr zwischen Donezk und Luhansk, sondern auch die Eisenbahn. „Wer diesen Punkt kontrolliert, kontrolliert die Kohlelieferungen in die Ukraine oder nach Russland“, sagt Gorbatsch. Mit dem Verkauf von Kohle können die Separatisten ihr wirtschaftliches Überleben sichern.

Appelle des Westens

Besteht nach der Einnahme von Debaltsewo durch die Separatisten eine Chance für Minsk II? Geben sich die Separatisten wie angekündigt mit Debaltsewo zufrieden? Diese Fragen sind entscheidend für den weiteren Verlauf des Konflikts. Gorbatsch zeigt sich skeptisch: „Putin und die Separatisten haben sich noch nie an die Vereinbarungen gehalten.“ Die prorussischen Freischärler könnten auf weitere Gebietsgewinne hoffen; und auch Kiew hat ein Argument mehr auf seiner Seite, um den Abzug der schweren Waffen zu verzögern.

International verstärkten sich jedenfalls die Appelle zur Einhaltung des Abkommens. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg forderte von Moskau offen den „Abzug all seiner Truppen“ aus der Ostukraine. EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini drohte mit neuen Sanktionen, sollten die Separatisten nicht auf Gewaltanwendung verzichten. Am Mittwochabend wollte Präsident François Hollande mit Petro Poroschenko, Russlands Staatschef, Wladimir Putin, und der deutschen Bundeskanzlerin, Angela Merkel, telefonieren: Es dürfte die letzte Rettungsaktion für Minsk II sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.02.2015)

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