"Russland ist größer geworden"

Russian President Putin attends meeting with Italian Prime Minister Renzi at Moscow's Kremlin
Russian President Putin attends meeting with Italian Prime Minister Renzi at Moscow's KremlinREUTERS
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Patriotische Lieder aus der Stalinzeit im Kindergarten, Georgsbändchen als Erkennungszeichen. Eindrücke aus einem stolzen und misstrauischen Land.

Die Sowjetunion verschied, und der Kommandant der Kaserne tanzte zum Schlager „Gelbe Tulpen“. Es war sein Geburtstag. Wodka und fettige Vorspeisen standen auf dem Tisch. Als er erfuhr, dass ein deutscher Korrespondent im abbruchreifen Wohnheim Offiziere interviewte, ließ er ihn holen. Der Kommandant war kurz zuvor aus der DDR abgezogen worden, und die Nostalgie nach dem guten Leben in Deutschland war groß. Er beköstigte und herzte den deutschen Journalisten und forderte ihn sogar mit steifem Kreuz zum Tanz auf. Es war eine Geste tief empfundener Freundschaft. Später musste ein Rekrut den Korrespondenten wie ein Schutzengel durch das nächtliche Wladikawkas zum Hotel zurückbegleiten. In den Sesseln des Hotelfoyers lungerten Wachen mit Kalaschnikows auf den Knien. Vorboten einer unruhigen Zeit.

Die Tür zur Kaserne stand damals weit offen – auch ohne Erlaubnis des Verteidigungsministeriums. Es war ein wildes, aber auch weltoffenes und wissensdurstiges Russland. Auf weiten Bahnreisen im Viererabteil wurde nächtelang geredet und palavert. Das praktische Leben stand im Vordergrund. Zu den häufigen Fragen zählten solche wie „Was kostet ein BMW der 3er-Reihe in Deutschland?“ oder „Was verdient ein Lehrer bei euch?“. Der Systemkonflikt war überwunden, und alles schien auf ein wohlhabendes und demokratisches, ein nicht bedrohliches, sondern inspirierendes Russland in Europa zuzulaufen. Naivität, Unwissen und auch westliche Überheblichkeit steckten mit in dieser Erwartung.


Belarus als Versuchslabor. Entsprechend ungläubig reagierte ich, als mir 1993 ein Weißrusse versicherte, westliche Menschen würden die Prägung durch die sowjetische Zeit unterschätzen. In Belarus kehre sie gerade zurück. Er wollte deshalb auswandern. Ein Jahr später wurde Alexander Lukaschenko weißrussischer Präsident. Das Autoritäre kam wieder in Mode bei der Elite, die so besser herrschen und aufteilen konnte, und bei den Menschen, die das Geführtwerden bequemer fanden. Belarus verwandelte sich aus russischer Perspektive in das Versuchslabor einer populären, gemäßigten Diktatur.

Auch in der Ukraine traf man Ende der Neunzigerjahre auf verängstigte Gesprächspartner. Eine Atmosphäre der Beklommenheit lag über allem. Moskau erschien im Vergleich pluralistisch und aufgeschlossen. Viele Staatsorgane waren damals noch zugänglich und sogar am Kontakt mit westlichen Korrespondenten interessiert. Mit dem Presseoffizier der russischen Grenztruppen konnte man im Sport-Café in Kreml-Nähe Tee trinken, Reportage-Projekte über den Kampf der Einheiten gegen die Störwilderer auf dem Kaspischen Meer oder gegen die Heroinschmuggler aus Afghanistan an der tadschikischen Grenze vereinbaren und noch ein bisschen ziellos plaudern. Die Grenztruppen waren damals eigenständig. Unter dem neuen Präsidenten Wladimir Putin wurden sie wieder dem Geheimdienst FSB unterstellt und verschwanden in der Unzugänglichkeit.

Putin sanierte das russische Staatsgebäude, sprach im Bundestag Deutsch und redete sogar der Mitgliedschaft Russlands in der Nato das Wort. Doch bald wurde das innenpolitische Klima rauer. Die Konsolidierung des Staates entpuppte sich als Aufbau einer alternativlosen Herrschaft. Schon während Putins zweiter Amtszeit erkannten die politischen Fußtruppen des Kreml, wo es langgeht: in Richtung einer Souveränität, die auf Anpassung und Einschüchterung im Inneren und eine antiwestliche Haltung im Äußeren setzt.

Das Misstrauen wuchs beständig. Als ich vor gut zwei Jahren in der Feuerwache einer Provinzstadt am Ural eine lokale Pressekonferenz besuchte, setzten mich die Vertreter des Innenministeriums und des Katastrophenschutzministeriums fast vor die Tür. Ein Ausländer, noch dazu in einem „militärischen Objekt“! Gemeint war die Feuerwache. Der Schreck saß tief. Erst nach längerer Beratung durfte ich bleiben. „Wir sollten uns die ganze Zeit aber bewusst sein“, sagte einer der Polizisten noch in bedrohlichem Tonfall, „dass der Vertreter eines fremden Landes unter uns sitzt“. Der Krieg in der Ukraine hat den Prozess der Abschottung nur verschärft.

Die journalistische Arbeit ist schwieriger geworden. Viele Vertreter des Staates sprechen nicht mehr mit ausländischen Journalisten. Sie dürfen es nicht, halten es für vergeblich oder fürchten Probleme. Korrespondenten stehen unter dem Grundverdacht, gekauft oder mit Spionage beauftragt zu sein. Viele Menschen sind vorsichtiger geworden, zumal der neue Gesetzesparagraf zum Landesverrat den staatlichen Ermittlern weiten Spielraum bietet. Das Fernsehen verbreitet Warnsignale, sich nicht zu sehr mit Ausländern einzulassen. Manches Zitat der Gesprächspartner darf nur noch anonym in einem Artikel benutzt werden. „Sie fahren wieder weg“, sagen sie, „aber wir müssen weiter hier leben.“

In Moskau ist Aggression spürbar: bei denen, die sich großrussisch auf der Siegerseite sehen, oft den Respekt vor Andersdenkenden verlieren und vielleicht zugleich tief in sich spüren, dass nicht alles mit der Krim und in der Ostukraine in Ordnung ist und seinen Preis haben könnte. Und bei denen, die sich mit ihren Skrupeln unverstanden und ausgestoßen fühlen.

Sogar im Straßenverkehr macht sich das bemerkbar. Zwar haben viele Autofahrer in Russland grundsätzlich ein robustes Verhältnis zu Verkehrsregeln und den Rechten anderer. Aber es gab Jahre, da schien die Beruhigung des Landes dank steigenden Wohlstands und des Versprechens auf Stabilität auch am Steuer durchzuschlagen. Der Schwächere wurde häufiger vorgelassen, was in der Rückschau auf die Neunzigerjahre unvorstellbar schien. Das kurzzeitige Anschalten der Warnblinkanlage als Dank avancierte zum modischen Zeichen fairen Verhaltens. Die neue Mittelklasse kam an den Lenker. Wer nicht mehr nur an das Überleben denken muss, kann sich die großzügige Geste leisten.


Krim in den Köpfen. Doch seit gut einem Jahr zieht wieder erhöhte Kampfeslust in den Moskauer Straßenverkehr ein. So, wie es für eine halb kriegsmobilisierte Gesellschaft in der Wirtschaftskrise zu erwarten ist. Eine Gesellschaft, in die vor allem die staatskontrollierten Medien Intoleranz und Hass tragen, um sie zu spalten, zu entkräften und um mit vorgeblichen Siegen wie auf der Krim die Aufmerksamkeit von Russlands Problemen abzulenken.

Die Krim steckt in den Köpfen: für die Mehrheit als Symbol historischer Wiedergutmachung, für andere als Schande und Menetekel des russischen Niedergangs. Auf dem Kindergeburtstag verkündete eine Siebenjährige freudig: „Russland ist größer geworden!“ Familienangehörige loben Putin, den Heimholer der russischen Erde, als „Prachtkerl“. Im Kindergarten üben die Kleinen Liedgut der Stalin-Zeit: „Steh auf, du großes Land, steh auf zum tödlichen Kampf.“ Glücklicherweise gefällt das Lied meiner Tochter nicht. Vom Text hat sie sowieso nichts verstanden.

Politische Initiativen zielen darauf ab, dass alle Schüler jeden Morgen zu Schulbeginn die Nationalhymne absingen. Das Bildungsministerium arbeitet ein neues Programm der „militärpatriotischen Erziehung“ aus. Ein Vertreter der ministeriellen Arbeitsgruppe erklärt das Ziel: „Den Kindern soll vor allem das Gefühl des Stolzes beigebracht werden, dass sie Bürger Russlands sind.“ In diesen Tagen klingt das beängstigend.

Immerhin warb ein Vertreter der russischen Schule, in die unsere Tochter von September an gehen soll, beim Tag der Offenen Tür vor der Elterngruppe mit ihren Schülerreisen zu Partnerschulen in Frankreich oder Deutschland. Offensichtlich sieht er diese Internationalität noch als Plus der Schule an. Heute ist man schon für wenig dankbar.

Das Zusammentreffen mit Fremden beginnt oft im gegenseitigen Belauern. Hat der andere ein Georgsbändchen an den Rückspiegel geknotet? Das orange-schwarze Bändchen haben die Polittechnologen des Kremls von einem Symbol für den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg zum Zeichen des russischen Nationalstolzes über die Annexion der Krim herabgewürdigt. Jeder versucht, aus Nebensätzen und Gesten abzulesen, ob der andere ein Mainstream-Patriot ist oder einer, der gegen den Strom denkt.

Es fällt schwer, miteinander zu diskutieren. Nicht nur, weil die Gefühle sofort hochkochen. Sondern auch, weil der Informationskrieg, in dem sich das Land wähnt, jede Grundlage für ein Gespräch vernichtet. „Im Fernsehen haben sie gestern gesagt ...“, lautet die Argumentation oft. Jede Seite hat ihre Informationen, angebliche Fakten und gefällte Urteile, die mit denen der anderen Seite überhaupt nicht abgleichbar sind.


Verschwörungstheorien. Gebildete Mittelschichteltern lassen sich von der Hysterie mitreißen und berichten ohne Spur des Zweifels, dass die Amerikaner auf dem Euromaidan in Kiew psychologische Kampfmittel wie das 25. Bild pro Sekunde zur unterschwelligen Beeinflussung der Menschen eingesetzt hätten. Oder dass die USA ein Bakterium züchteten, mit dem sie die russischen Fischbestände vernichten wollten. Manches klingt wie aus Zeiten des Obskurantismus. Die undurchsichtige Staatsmacht in Russland hat seit Langem das Aufkommen üppiger Verschwörungstheorien befördert. Die Propaganda macht sich das heute zunutze.

Die Ungewissheit darüber, wie es weitergeht, ist belastend. Zugleich wird deutlich, dass viele Errungenschaften der Putin-Jahre sich als flüchtig oder als Einbildung erweisen. Die Wirtschaft erlebt eine Krise, die ein hoher Ölpreis nur noch verdecken, aber nicht mehr beheben könnte. Das große Plus Putins, die Stabilität nach den schwierigen Neunzigerjahren, schrumpft. Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow zeigt, dass alle Versprechen einer sicheren Gesellschaft nicht eingelöst werden.

Als Reaktion sucht jeder seine persönliche Lebensstrategie: Viele passen sich an oder schauen weg, andere suchen die innere Emigration oder gar die Sicherheit im Ausland. Ein Freund der Familie hat sich eine Wohnung in Lettland gekauft. „Wenn es in Russland richtig böse losgeht“, sagt er, „bin ich weg und dort.“

zum autor

Johannes Voswinkel, 53 Jahre, geboren in Frankfurt am Main, studierte in Freiburg und Hamburg Ostslawistik und Romanistik und besuchte die Henri-Nannen-Journalistenschule. Von 1991 bis 1992 und wieder von 1998 an arbeitete er für den „Stern“, von 2002 bis 2013 für die „Zeit“ in Moskau. Seit gut einem Jahr berichtet er als freier Korrespondent über die früheren Sowjetrepubliken. Er wird nun regelmäßig für die „Presse am Sonntag“ schreiben. Voswinkel

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.03.2015)

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