Mit vereinten Kräften gegen Boko Haram

Nigerien special forces prepare to fight Boko Haram in Diffa
Nigerien special forces prepare to fight Boko Haram in DiffaREUTERS
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Mehrere Staaten der Sahel-Region gehen erstmals in einem gemeinsamen Militäreinsatz gegen die Terrorgruppe Boko Haram vor. Im Grenzgebiet zwischen Niger und Nigeria können sie erste Erfolge vorweisen.

Die Haustüren sind aufgebrochen oder ganz herausgerissen. Matratzen, Kochtöpfe, Reifen, Wasserkanister und Teppiche liegen auf den Straßen verstreut. Viele der aus grauem Lehmziegel gebauten Häuser sind abgebrannt, und die angrenzenden Ziegen- und Kuhställe wurden gleich mit abgefackelt. Am schlimmsten hat es den Markt von Mallam Fattori getroffen, einem Ort im Nordosten Nigerias, der nur drei Kilometer von der Grenze zu Niger entfernt ist. Ganze Straßenzüge von Geschäften wurden im Stadtzentrum angezündet. Die rußgeschwärzten und verformten Wellbleche der Dächer liegen in großen Haufen wild übereinander getürmt in den Gassen. Die meisten der Bewohner sind geflüchtet, einige wenige mussten evakuiert werden. Mallam Fattori ist eine bedrückende Geisterstadt. „Hier ist das Zeichen der Verbrecher zu sehen, die dafür verantwortlich sind“, sagt Agidan Saniamenou, ein Scharfschütze der nigerischen Armee, der sein russisches Dragunow-Gewehr immer bei sich trägt. Er zeigt auf eine Wand mit dem aufgesprühten Logo von Boko Haram, der radikalen Islamistengruppe, die im Nordosten Nigerias seit Jahren Angst und Schrecken verbreitet. Seit 2009 hat die Terrororganisation, die einen islamischen Staat errichten will, über 13.000 Menschen auf dem Gewissen. 6000 davon ermordete sie allein seit Jänner 2014. Zudem wurden viele Hundert Frauen und Jugendliche verschleppt und als Sklaven gehalten und missbraucht.

„Mohammed, der Prophet Gottes“, liest Saniamenou die arabische Schrift des Boko-Haram-Logos laut vor, das rechts und links von Kalaschnikows flankiert ist. Im Eckhaus etwas weiter unten liegt eine Leiche im Hauseingang. Dem penetranten Geruch nach muss der Tote schon über eine Woche dort liegen. In seiner linken Hand hält er noch eine Plastiktasse. „Er wird nicht bestattet, weil er ein Kämpfer von Boko Haram war“, erklärt der Scharfschütze, der zu den internationalen Streitkräften gehört, die seit März eine Offensive gegen Boko Haram führen. Insgesamt kämpfen 7000 Soldaten aus Niger und dem Tschad gemeinsam gegen die radikal-islamistische Gruppe im Grenzgebiet von Nigeria.

Ziel ist die Ausradierung der Extremisten, die sich im März diesen Jahres der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) angeschlossen haben. Es ist das erste Mal, dass sich afrikanische Staaten zum Krieg gegen Jihadisten zusammenschließen. Nigeria und Benin sollen später eingreifen. Kamerun kämpft bisher nur auf eigenem Territorium gegen die Terroristen. Boko Haram gefährdet die Sicherheit und Stabilität der Sahel-Region, die als eine Art Pufferzone zwischen Nordafrika und dem Rest des Kontinents fungiert. Eine Ausweitung eines radikal-militanten Islam könnte fatale Folgen für ganz Afrika haben. Die internationalen Streitkräfte werden in ihrem Kampf von Frankreich unterstützt, das Spezialtruppen und eine Aufklärungseinheit in Grenznähe zu Nigeria stationiert hat.

Machtwechsel vor zehn Tagen. Mallam Fattori war von Boko Haram im November 2014 besetzt worden. Die Kleinstadt mit rund 20.000 Einwohnern diente fortan als Basis und Startpunkt für ihre Raubzüge im Grenzgebiet Nigerias und Nigers. Waffen und Munition stammten aus der Militärbasis des Orts, die die nigerianische Armee Hals über Kopf aufgegeben hatte. Vor zehn Tagen räumte die islamistische Terrorbande jedoch die Stadt aus Angst vor den heranrückenden internationalen Streitkräften. Die Eingreiftruppe war von Niger aus losgezogen und hatte auf dem Weg nach Mallam Fattori mehrere Städte und Dörfer in Nigeria entlang der Grenze befreit. „Wir starteten am 8.März“, sagt Oberst Toumba, der nigerische Kommandant der Streitmacht, die ihr Militärcamp außerhalb der Stadt aufgebaut hat. In nur 23 Tagen haben wir unsere Ziele erfüllt.“ Toumba sagt das nicht ohne Stolz. Nun sei es an der Zeit, dass die Armee Nigerias vom Süden her kommend die eben erst befreiten Gebiete unter ihre Kontrolle bringe. Der Kommandant ist überzeugt, dass es mit Boko Haram nicht mehr lang dauern werde. „Die Terroristen haben eine empfindliche Niederlage erlitten, Hunderte von ihnen sind getötet worden, und der Rest musste sich weit zurückziehen“, skizziert er die Lage. Bei seiner erfolgreichen Offensive scheint die mobile französische Aufklärungseinheit eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Jedenfalls betont der Oberst mit einem breiten Lächeln „die enorme Hilfe Frankreichs“. Im Lastwagen des französischen Geheimdiensts konnten Livebilder der Aufklärungsflugzeuge mitverfolgt werden. Zudem kann man Telefongespräche und den Funkverkehr des Feinds abhören.

Kämpfer mit Pfeil und Bogen. Mit der Rückeroberung der strategisch wichtigen Stadt wurden die Einnahmequellen der Terroristen gekappt. Der Wohlstand Mallam Fattoris und der Region kommt vom Fischfang im Tschad-See und dem roten Paprika, für den die Gegend bekannt ist. Mallam Fattori war Handels- und Umschlagplatz. Trotz der Verwüstung kann man noch viele Langboote und Fischreusen in der Stadt entdecken. Boko Haram hatte von den Händlern, Fischern und Bauern Steuern abkassiert. Wer nicht bezahlen wollte, wurde enteignet oder einfach ermordet. In nur einer Woche wurden von Polizei und Militär 249 Lastwagen gestoppt, die Fisch geladen hatten. Jeder Einzelne davon hatte einen Wert von umgerechnet rund 14.000 Euro. Ein lukrativer Geschäftszweig, der Boko Haram zu einer wohlhabenden Terrororganisation machte. Damit scheint es nun aber vorbei zu sein. Ohne ausreichend finanzielle Ressourcen dürfte es schwierig werden, neue Mitglieder zu rekrutieren.

Es gibt bereits erste Anzeichen, die auf Geldmangel innerhalb der Terrororganisation hindeuten. „Viele kämpfen mit Pfeil und Bogen oder aus Holz gebastelten, kleinen Speeren, die mit einer Metallspitze versehen sind“, berichtet Oberstleutnant Abdul Kadri Ammadou. Er leitet die Militärbasis im Wüstensand von Bosso, einem Ort, der auf der anderen Seite der Grenze in Niger liegt. Ausgerechnet diese schlecht Bewaffneten würden die erste Angriffslinie formieren, erzählt Ammadou. „Wir waren beim ersten Mal ganz perplex.“ Nach mehreren Attacken habe man sich schnell daran gewöhnt – müsse man auch, wenn man überleben wolle. In der zweiten Angriffswelle, erzählt der Oberstleutnant, kämen ebenfalls nur diese Typen mit leichter Bewaffnung. Sie hätten es darauf abgesehen, im Kampfgetümmel Waffen und Munition, aber auch Nahrungsmittel zu stehlen. „Erst am Ende kommen dann die richtigen Boko-Haram-Kämpfer mit Maschinengewehren.“

Ammadou zeigt kein Verständnis für die Strategie Boko Harams. Für ihn sind sie alle verrückt, da sie ohne Rücksicht auf Verluste von allen Seiten angriffen. „In einem Kampf haben wir allein 300 tote Kämpfer gezählt“, sagt der Kommandeur. Von Gefangenen weiß der nigerische Oberstleutnant, dass Montag, Donnerstag und Freitag die bevorzugten Angriffstage seien. „Angeblich sollen das die heiligsten Tage im Islam sein, an denen man am besten ins Paradies komme.“ Ammadou schüttelt den Kopf und lächelt gleichzeitig, bevor er anfügt: „Die meisten der Kämpfer sind nicht älter als 25 Jahre, kommen aus sehr armen Verhältnissen ohne jede Bildung.“ Bei Boko Haram bringe man ihnen zum ersten Mal Lesen und Schreiben bei, allerdings nur Arabisch – die Sprache des Koran.

In der Hauptstadt Niamey ist man mit den Resultaten der Offensive hochzufrieden. Dort sprechen Militärs und Politiker bereits vom Ende Boko Harams, nach Verlusten der Terroristen in Höhe von mehr als 2000 Mann.


Warten auf nigerianische Armee. Oberst Salaou Barmou sitzt im Hauptquartier der Operation gegen Boko Haram in Diffa, 130 Kilometer von Bosso und Mallam Fattori entfernt. „Boko Haram ist nicht einfach verschwunden“, sagt er. Die Terrorgruppe hält noch eine Stadt besetzt, nämlich Arege, das nur 20Kilometer südlich von Mallam Fattori liegt. Außerdem sei der Erfolg der Mission mit der Armee Nigerias verknüpft. Es habe eine Abmachung mit der nigerianischen Militärführung gegeben, in den Städten und Dörfern sofort die Kontrolle zu übernehmen, sobald sie von nigerischen und tschadischen Truppen befreit würden. „Aber die Nigerianer kommen einfach nicht“, sagt Barmou. „Es scheint so, als hätten sie Angst, in einen Kampf mit Boko Haram verwickelt zu werden.“ Das könnte man „typisch“ für Nigerias Armee nennen. Denn der Erfolg und die territoriale Ausbreitung Boko Harams im Norden Nigerias war nur möglich, weil die Armee ihre Kasernen und Stellungen meist kampflos den Islamisten überließ. „Stellen Sie sich das vor“, sagt Oberst Barmou. „Ein nigerianischer Offizier sagte zu mir, wir sollten zu ihnen ins 75 Kilometer entfernte Baga vorstoßen und den Weg für sie frei machen.“ Sie hätten Angst vor Hinterhalten Boko Harams und würden deshalb nicht ausrücken. „Das soll angeblich die stärkste Armee Afrikas sein?“, fügt Barmou schmunzelnd an. „Ausgerechnet wir sollen der nigerianischen Armee aushelfen, die einen Etat von rund vier Milliarden Euro hat, was ungefähr dem Bruttosozialprodukt Nigers entspricht.“

Auf der örtlichen Polizeistation stehen Hunderte von Motorrädern auf dem Hof. Sie wurden auf unbestimmte Zeit konfisziert, es ist verboten, damit unterwegs zu sein. Motorräder sind das bevorzugte Verkehrsmittel von Boko Haram – aber auch aller anderen Menschen, in Diffa und anderswo. „Alles Maßnahmen, die man treffen muss, will man die Terroristen effektiv bekämpfen“, erklärt Polizeichef Mamane Sane Youssoufou. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen hatte über das Verbot mehrfach geklagt. Die Menschen könnten sich nicht mehr frei bewegen, Schüler nicht mehr ihre Schulen und Patienten nicht mehr die Krankenstationen erreichen.

Einen Großteil seiner Zeit muss sich der Polizeichef für Spitzel und Schläferzellen von Boko Haram nehmen. „Die Grenze zwischen Niger und Nigeria ist porös und wir müssen sichergehen, dass sich die Kämpfer nicht einschmuggeln.“ Rund 500 Verdächtige sind im Lauf des letzten Monats verhaftet worden. Die einen wurden als Unterstützer denunziert, andere haben Waffen, Lebensmittel oder Benzin geschmuggelt. Über sechzig von ihnen warten gerade auf den Abtransport. Der größte Teil sitzt elendig zusammengepfercht in der Eingangshalle der Polizeistation auf dem Boden. Es riecht stark nach Schweiß, Hitze und Fäkalien.

Der Gouverneur von Diffa berichtet von über 1000 Jugendlichen, die aus den Dörfern der Region zu Boko Haram gegangen seien. Die meisten würden „leichtes Geld“ suchen, meint Yaeubou Soumane Gao hinter einem Schreibtisch, auf dem sich verstaubte Bücher stapeln. Nein, Religion sei kaum der Grund für junge Leute, Kämpfer zu werden, glaubt der Gouverneur. In letzter Zeit gebe es auch positive Entwicklungen zu berichten. „Einige Boko-Haram-Mitglieder verlassen die Gruppe und wenden sich auf der Flucht an die Autoritäten, um wieder einen legalen Status zu bekommen.“

Im Gefängnis von Diffa gibt es allerdings nur einen Fall dazu. Es ist der 28-jährige Gerba, der von Boko Haram entführt wurde und nach einer Woche wieder geflohen sein will. Die Narben auf seinem Körper scheinen aber eine andere Sprache zu sprechen. Sie sehen wie Schusswunden aus. Bauch und Brust sind von vielen kleinen Narben übersät, die von Granaten- oder Mörsersplittern stammen könnten. Mit Handschellen sitzt Gerba im Hof des Gefängnisses. Ihm geht es noch gut. Zwei andere Häftlinge, die wohl als Kollaborateure verhaftet wurden, sind wegen des heißen Wetters offensichtlich in ihren Zellen kollabiert. Man hat sie ins Freie gebracht und mit einem Eimer Wasser übergossen. Wie bewusstlos liegen sie jetzt im Sand und scheinen zu schlafen. In ein paar Tagen werden sie und auch Gerba in die Hauptstadt Niamey gebracht. Dort wird befunden, ob Anklage gegen sie erhoben wird.

Mord ohne Vorwarnung. Im Flüchtlingslager von Gagamari, eine halbe Autostunde von Diffa entfernt, drängen sich die Verbrechen der Terrorgruppe vehement ins Bewusstsein. „Sie kamen um neun Uhr morgens in unseren Ort“, erinnert sich Karagama Mammen, der aus Damasak in Nigeria stammt. „Sie haben zuerst in die Luft geschossen, dann alle Männer ohne jede Vorankündigung ermordet.“ Alle Buben über zehn seien gefangen und verschleppt worden. „Niemand weiß, was mit ihnen geschehen ist“, sagt der Familienvater von sechs Kindern. Er selbst sei nur mit viel Glück entkommen. Sanft streichelt er über den Kopf seiner Tochter, die neben ihm steht. „Boko Haram hat mit ihrem unsinnigen Kampf unser Leben ruiniert. Wir hoffen, dass bald Frieden einkehrt und wir wieder ein normales Leben führen können.“

FAkten

Boko Haram ist eine islamistische Terrorgruppe, die im Norden Nigerias tätig ist. Ihre Anfänge liegen in den Nullerjahren. Verfolgte Boko Haram (Bedeutung des Begriffs: Westliche Bildung ist Sünde) anfänglich das Ziel, einen Gottesstaat in Nigeria zu errichten, machen sich in letzter Zeit immer mehr jihadistische Tendenzen bemerkbar. Im März 2015 schwor die Gruppierung dem Islamischen Staat ihre Gefolgschaft. Die Terroristen haben seit ihrem Bestehen mehr als 13.000 Menschen getötet. Die Gruppe macht immer wieder mit spektakulären Massenentführungen von sich reden.

Das nigerianische Militär wird seit mehreren Wochen von regionalen Truppen aus dem Tschad, Kamerun, Niger und Benin im Kampf gegen den Terror unterstützt. Boko Haram musste einige Gebiete im Grenzgebiet zum Niger an die internationalen Einheiten abtreten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.04.2015)

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