Völkermord an Armeniern: Der geleugnete Genozid

Im Hintergrund des Denkmalkomplexes in Jerewan liegt der Sehnsuchtsort der Armenier: der Berg Ararat.
Im Hintergrund des Denkmalkomplexes in Jerewan liegt der Sehnsuchtsort der Armenier: der Berg Ararat.(c) Streihammer
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Der Völkermord treibt viele Armenier im Schatten des Ararats noch heute um. Auch, weil mit der Katastrophe Politik gemacht wird.

Die 102 Jahre alte Frau sagt kein Wort. Amaljan Arevalujs richtet sich das Kopftuch, dann legt sie die faltigen Hände in den Schoß und fixiert mit finsterem Blick den Boden. Also erzählen der Sohn, 80 Jahre jung, seine Frau und die Gattinnen der Enkelkinder die Lebensgeschichte der Amaljan Arevalujs, die da auf der Couch kauert. Es ist ein Drama. Ohne Happy End.

Zwei Jahre ist Amaljan Arevalujs alt, als sie 1915 ihren Vater töten. Amaljans Mutter, „eine bildhübsche Frau“, wird mit dem Pascha verheiratet. Eine Hochzeit mit einem Türken, die Amaljan das Leben rettet – und die sie ihrer Mutter trotzdem nie verzeihen wird. „Für mich ist sie tot. Sie hätte bei uns bleiben und wir hätten gemeinsam sterben sollen.“ Das habe sie oft gesagt, erzählt die Familie. Und sie meint es so. Die Mutter setzt sich Jahrzehnte später aus der Türkei zu Brüdern nach Syrien ab („sie wollte als Armenierin sterben“) und erfährt dort, dass ihre Tochter noch lebt – und zwar seit 1926 in Armeniens Hauptstadt Jerewan. Aber Amaljan lehnt ein Wiedersehen ab. Die Mutter stirbt, so erzählen sie es, im Alter von 107 Jahren – ohne die Tochter noch einmal in die Arme geschlossen zu haben. „Wie soll ich vergessen?“ Vor 100 Jahren bricht Medz Yeghern, also „die große Katastrophe“, über die Armenier herein. Die systematische Vertreibung und Vernichtung im Osmanischen Reich reißt nach Angaben Armeniens 1,5 Millionen Angehörige des Christenvolks in den Tod. Die Überlebenden verstreuen sich über die ganze Welt, eine große Diaspora hält sich fest an der Erinnerung an die Massaker, die der Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches, die Türkei, bis heute nicht als Genozid anerkennen will. Im heutigen Armenien, diesem verarmten, seit 1991 unabhängigen Kaukasus-Staat östlich der Türkei, ist der Genozid ein nationales Trauma. Auch weil sie hier das Gefühl haben, dass der Völkermord ohne Anerkennung der Türkei politisch ungesühnt bleibt.

Die Tage um den 24. April 2015, an dem sich die Verhaftung der armenischen Elite in Konstantinopel zum 100. Mal jährt, werden in der Hauptstadt Jerewan zum Großereignis stilisiert. Das Vergissmeinnicht, Symbol des Gedenkjahrs, ist bereits omnipräsent: Die lila Blume blitzt als Anstecker am Revers der Politiker, auf den schwarzen Gewändern der Priester, Geschäftsleute kleben sie in die Auslage, Autofahrer auf die Heckscheibe. Aber viele brauchen hier kein Vergissmeinnicht, um nicht zu vergessen. Da ist der armenische Syrer Krekour Surenyan, der in einem Plattenbau in Jerewan sitzt und mit vergilbten Fotos und alten Büchern beweisen will, dass er von einem Prinzen aus Zeytun in Westarmenien, also der heutigen Türkei, abstammt. Und der selbst, wie seine Vorfahren vor 100 Jahren, Flüchtling ist. Wegen des Kriegs in Syrien. „Die Geschichte wiederholt sich“, sagt er. Oder der Diakon Armen in Etschmiadsin: „Mein Großvater hat mir immer wieder erzählt, wie sie seine Großmutter geköpft haben. Wie soll ich das je vergessen?“, fragt er.

In Etschmiadsin, „Armeniens Vatikan“, wird Kirchenoberhaupt Katholikos-Patriarch Karekin II. diese Woche die Märtyrer des Genozids heiligsprechen. Das hat in diesem tiefgläubigen Land Gewicht. Hier wurde als erstes, im Jahr 301, das Christentum zur Staatsreligion erhoben, es gibt ein Unterrichtsfach Geschichte der Kirche, und noch heute werden ohne Mangel neue Gotteshäuser errichtet.

Dass die Erinnerung an den Genozid noch 100 Jahre danach frisch ist, liegt auch an Zizernakaberd, dem Hügel und Denkmalkomplex über Jerewan. In diesen Tagen surren hier Bohrmaschinen, alte Männer und Frauen graben den Rasen um. Das in den Hügel gebaute Genozid-Museum wird aufpoliert und erweitert. Alles für den 100. Jahrestag. „Eine Nation, die ihre Vergangenheit nicht kennt, hat keine Zukunft“, sagt Vize-Museumsdirektor Suren Manukjan. Einst wurden seine Vorfahren aus Kaş, Südtürkei, vertrieben. „Wissen Sie, noch ist mein Kind zu klein, aber eines Tages werde ich ihm erzählen, woher wir kommen und warum wir nicht mehr dort leben können.“

Auf dem Gedenkhügel lodert zwischen Basaltstelen eine ewige Flamme, beschallt von tieftraurigem Gesang und umringt von Rosen, die sich am 24. April meterhoch stapeln werden. Daneben schraubt sich ein Obelisk in den Himmel, den ein Spalt durchzieht, der Armeniens Teilung andeuten soll.

Doch das eindringlichste Mahnmal ruht dahinter am Horizont. Majestätisch liegt er an diesem Tag da, der Gipfel wie immer schneebedeckt: Ararat. Auf dem 5137 Meter hohen Berg soll einst die Arche Noah gestrandet sein. Armenien trägt den ruhenden Vulkan im Wappen. Alles ist hier nach Ararat benannt: Banken, Hotels, Schnaps. Doch der heilige Berg liegt – in der Türkei. Hinter einer Grenze, die Ankara vor 22 Jahren geschlossen hat. Damals zog Jerewan in Bergkarabach an der Seite der dortigen Armenier in den Krieg gegen das mit der Türkei verbandelte Aserbaidschan. Der Konflikt ist heute eingefroren, es gibt einen Waffenstillstand, aber keinen Frieden und keine diplomatische Beziehungen zwischen Armenien und derTürkei.

Vizeaußenminister Schawarsch Kocharjan zündet sich eine Zigarette an. Marke Ararat. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass es mit dieser türkischen Regierung in der nächsten Zukunft Fortschritte gibt“, sagt er. Sie waren schon weiter. Dass die beiden Länder 2009 ohne Vorbedingungen verhandelten, stieß auf Widerstand – in Aserbaidschan und in Armeniens Diaspora, die zuvor die Genozid-Anerkennung verlangte. Doch es gab eine Grundsatzvereinbarung, die Züricher Protokolle, die eine wirtschaftlich wichtige Öffnung der Grenze, diplomatische Beziehungen und eine historische Aufarbeitung der Massaker vorsahen. Ratifiziert wurden sie nie. Und zuletzt schlug der türkische Präsident nicht nur die Einladung zum Genozid-Gedenken in Jerewan aus, sondern rief eine Veranstaltung zur Schlacht von Gallipoli ins Leben – für denselben Tag. „Ein zynischer Schritt“, sagt der Vizeaußenminister.

Unter Stalin waren die Massaker auch in Sowjet-Armenien ein Tabu. Mit Massendemonstrationen haben sie am 50. Jahrestag ihre Denkmäler errungen. Als das Riesenreich dann 1991 implodierte, „war keine andere Ideologie mehr da, der Nationalismus wurde bestimmend“, sagt Gevork-Ter Gabrielijan, Analyst der Eurasia Partnership Foundation. Der Bergkarabach-Konflikt, die laute Diaspora und der Genozidstreit befeuerten diesen „ismus“, der hier ein Schwarz-Weiß-Denken befördert hat und instrumentalisiert wird – etwa um von inneren Problemen wie Korruption und Oligarchie abzulenken.

Musa Ler. Es gibt aber auch eine unpolitische Seite: Hinter den rosa bis sandfarbenen Mauern aus Tuff, die Jerewans Stadtbild prägen, pflegen viele Familien schlicht die Traditionen der Vertriebenen. „Das wurde von Generation zu Generation weitergegeben“, sagt Gabrielijan. „Manche sprechen noch Türkisch.“

„Auch der Schmerz wurde vererbt“, sagt Manuk. Der Bäcker ist ein Nachfahre von Widerstandskämpfern aus den Dörfern um den Musa Ler (Mosesberg, türkisch: Musa Dağ), den Hauptfiguren in Franz Werfels Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, der die Massaker weltbekannt machte. Heute lebt Manuk in Musaler, Armenien - viele Siedlungen wurden hier nach Schicksalsorten jenseits der Grenze benannt. Der Bäcker träumt davon, dass Ankara das Siedlungsgebiet seiner Urgroßeltern eines Tages abtritt. In seinem Musaler ist nicht viel los. Es gibt eine Franz-Werfel-Schule und ein verlorenes Museum auf einer Anhöhe. Dort sind neben einer Werfel-Büste auch Bilder von Soldaten in Bergkarabach zu sehen. „Wie sollen wir den Genozid vergessen, wenn unsere Söhne an der Grenze sterben?“, fragt Museumsmitarbeiterin Melania. Geschichte und Gegenwart werden hier mitunter gefährlich vermengt.

Die alte schweigende Amaljan Arevalujs lebt in Arabkir. Wie vor 102 Jahren – bloß dass ihr Arabkir heute eine Siedlung in Jerewan ist, hunderte Kilometer von ihrem gleichnamigen Geburtsort entfernt. Ob es eine Aussöhnung mit der Türkei geben kann, diskutiert die Familie. „Türke bleibt Türke“, sagt die eine. „Es gibt solche und solche. Die Politik ist das Problem“, widerspricht eine andere. Dann bricht Amaljan ihr Schweigen mit einem Satz, der auch 100 Jahre danach kein versöhnlicher ist: „Verflucht seien sie.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2015)

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