Ankara erwägt wirtschaftliche Strafmaßnahmen als Reaktion auf Nationalratserklärung. Außenamt versucht, die Wogen zu glätten. Minister Kurz telefonierte mit türkischem Amtskollegen.
Ankara/Wien. Der Streit zwischen der Türkei und Österreich über die Anerkennung des Genozids an den Armeniern eskaliert weiter. Wie „Die Presse“ erfahren hat, sondiert die türkische Regierung wirtschaftliche und andere Strafmaßnahmen. Das Außenministerium in Wien stellt sich bereits auf Sanktionen ein. 650 österreichische Unternehmen sind derzeit in der Türkei aktiv. Betroffen sein könnten auch Ausgrabungen in der antiken Stadt Ephesos im Westen des Landes, die durch die türkische Antikenverwaltung jedes Jahr neu genehmigt werden müssen.
Da der Nationalrat die Massenmorde von 1915 als Völkermord eingestuft hatte, berief Ankara am Mittwoch seinen Botschafter in Wien, Mehmet Hasan Gögüs, zu Gesprächen ein. In einer Stellungnahme der türkischen Regierung hieß es zudem, die Erklärung des Parlaments werde die Beziehungen „dauerhaft beschädigen“. Die Ereignisse so zu verdrehen sei „nichts weniger als ein Massaker des Rechts“.
Der österreichische Außenminister, Sebastian Kurz, betonte in einem Telefonat mit seinem türkischen Amtskollegen, Mevlüt Çavuşoğlu, am Donnerstag, dass die Erklärung von allen Parteien getragen worden sei. Sie habe sich auch kritisch mit der Rolle Österreich-Ungarns, das im Ersten Weltkrieg auf der Seite des Osmanischen Reichs stand, auseinandergesetzt. „Die Erklärung des österreichischen Parlaments ist zu respektieren.“ Im Gegensatz zu den Nationalratsparteien spricht das Außenministerium bis heute nicht von Völkermord, auch, um die ohnehin angespannten Beziehungen zur Türkei nicht weiter zu belasten.
Nationalistisches Wahl-Engagement
Die Plattform der türkischen Vereine rief für den heutigen Freitag zu einer Demonstration gegen die „Lügen des Völkermords“ in Wien auf. Die rund 5000 angemeldeten Teilnehmer wollen gegen den „schockierenden Beschluss“ des österreichischen Parlaments protestieren.
„Scharfe Reaktion“ war am Donnerstag eine Formulierung, die in vielen türkischen Medien zu der österreichischen Erklärung zu finden war. Auch nach der erwarteten Annahme einer Resolution zum Völkermord an den Armeniern durch den deutschen Bundestag heute, Donnerstag, ist mit einer heftigen Antwort zu rechnen. In dem Dokument heißt es, das Schicksal der Armenier sei beispielhaft „für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20.Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist“. Die Türkei wird aufgefordert, die Geschichte aufzuarbeiten.
Angesichts der Tatsache, dass das Datum des Armenier-Jahrestags und die Haltung vieler europäischer Staaten zu dem Thema seit Langem feststehen, mögen die wütenden türkischen Reaktionen überraschen. Doch zu einem Großteil liegen die Gründe für die Aufregung im türkischen Wahlkalender: Wenige Wochen vor der Parlamentswahl am 7. Juni sieht sich die Regierung gezwungen, beim Thema Armenier nationalistisches Engagement zu zeigen. Schließlich gehe es der Regierungspartei AKP bei der Wahl vor allem darum, rechtsgerichtete Wähler anzuziehen, heißt es bei westlichen Diplomaten.
Zugleich versucht die Regierung aber, die scharfen Töne durch Versöhnungsgesten auszutarieren. So schickt Ankara zum heutigen Jahrestag zum ersten Mal einen Minister zu einem armenischen Gedenkgottesdienst: EU-Minister Volkan Bozkir vertritt die Regierung bei der Zeremonie im armenischen Patriarchat an diesem Freitag. Unterdessen verurteilte Premier Ahmet Davutoğlu „Deportationen“ jeder Art als Verbrechen gegen die Menschlichkeit; „Deportation“ lautet die offizielle türkische Bezeichnung für die Verbrechen, die den Armeniern angetan wurden. Den Begriff Völkermord lehnt Ankara ab.
Erfahrungen aus der Vergangenheit legen auch nahe, dass die Türkei ihren Furor nicht unbedingt in politisches Handeln übersetzen wird. Ernsthafte politische Langzeitfolgen hat es auch bei einem ähnlichen Streit in der Vergangenheit nicht gegeben. So erholten sich die Beziehungen zu Frankreich nach der Anerkennung des Völkermords durch Paris zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts relativ rasch wieder, obwohl Ankara die wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zunächst deutlich abkühlen ließ. Heute ist Frankreich einer der wichtigsten Handelspartner der Türkei.
Schweigen zu russischen Worten
Noch deutlicher wird der Vorrang der Realpolitik im türkischen Verhältnis zu Russland. Auch Moskau spricht von einem Völkermord, Präsident Wladimir Putin wiederholte den Begriff kurz vor dem Jahrestag. Der Staatschef reist zudem zur offiziellen Gedenkfeier in die armenische Hauptstadt, Eriwan. Auch nach Putins Äußerung war die türkische Reaktion bemerkenswert: Es gab keine. Der Grund dafür liegt auch in der Abhängigkeit von russischem Erdgas. Er glaube nicht, dass Putins Reise dem Verhältnis zur Türkei schaden werde, sagte der russische Präsidentensprecher Dmitry Peskow. Die Beziehungen stünden auf einem soliden Fundament einer „für beide Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit“. (cu, gü, duö)
MASSNAHMEN
•Den (fremden) Botschafter einbestellen.Der Landesvertreter wird ins Außenamt zitiert, um ihm Missfallen mitzuteilen. Das kommt regelmäßig vor.
•Den Botschafter zu Konsultationen einberufen. Der eigene Botschafter verlässt das Gastland vorübergehend, meist für ein paar Tage.Selten.
•Den Botschafter abberufen. Der eigene Botschafter verlässt das Gastland auf unbestimmte Zeit.
•Abbruch der Beziehungen. Nichts geht mehr. Ein anderer Staat kann mit der Interessenvertretung beauftragt werden.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2015)