Welche Krise? Die gelassene Bundesrepublik

Das Reichstagsgebauede
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Die Mehrheit der Deutschen ist bisher persönlich nicht betroffen. Im Alltag ist von der Wirtschaftskrise kaum etwas zu spüren, während in den Medien eine Hiobsbotschaft die nächste jagt.

Nee, ich mach mir überhaupt keine Sorgen. Sonst werd ich ja verrückt.“ Gisela Keil (76) schleppt gerade ihre Einkaufssäcke nach Hause und schnauft ein wenig. Was die Wirtschaftskrise noch bringen wird, „det weiß ohnehin keiner. Da muss man sich überraschen lassen, sonst wird man seelisch krank.“ Die Berliner Pensionistin, die früher als Sekretärin im Außenhandel tätig war, hat ein bisschen etwas erspart, „damit alles geregelt ist, wenn ich einmal abkratze“.

Trotz der Hiobsbotschaften, die täglich auf die Deutschen niederprasseln, bleibt die alte Dame gelassen: „Wenn ich abends in der Glotze die Nachrichten sehe, dann geht das bei einem Ohr rein und beim anderen raus. Heute so, morgen so. LMAA, falls Sie wissen, was ich meine.“ Leck mich am A...? „Genau.“ Sagt's, lacht schallend und trippelt von dannen.

Ähnlich gelassen reagieren auch jüngere Semester. Der Gastgarten des Eis- und Waffelsalons gleich gegenüber ist gesteckt voll, die Schlange reicht bis ums Eck. „Glücklich am Park“ heißt der Laden, und genauso wirken die Gäste, die ihre Gesichter in die Sonne recken. Von Krisenstimmung keine Spur. „Ich bin ganz entspannt“, sagt Ove Jepsen (41), der in der Nähe ein Secondhandgeschäft betreibt und sich gerade eine Pause gönnt. „Ich hab in meinem ganzen Leben nicht gespart. Das Geld geht raus, wie's reinkommt.“ Klar, ein bisschen Sorgen macht sich Jepsen schon angesichts der Wirtschaftskrise: „Man muss sehen, wo man bleibt, aber großartig dagegen anwerken kann ich auch nicht.“

Ebenso wie die Schanigärten sind auch die Einkaufstüten der Berliner gut gefüllt. Trotz der Krise wird laut Konsumforschern munter weitergeshoppt. „Derzeit spüren die Deutschen die Rezession noch nicht in ihrer Tasche“, meldet der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE). Positiv wirken sich außerdem Tarifabschlüsse vom vergangenen Jahr und die geringe Inflation mit niedrigen Preisen vor allem für Energie und Lebensmittel aus. In den Einkaufsstraßen herrscht reger Betrieb; Bau-, Garten- und Möbelmärkte machen ein gutes Geschäft. Auch die Anbieter von Süßwaren, Schmuck, Kosmetik und Büchern zeigen sich zuversichtlich. So hofft man etwa bei der Buchhandelskette Hugendubel, dass viele bei einem spannenden Krimi Ablenkung von ihren Zukunftssorgen suchen könnten. Und bereits 2008 wurde um gut sieben Prozent mehr mit Schokoladeerzeugnissen umgesetzt – legt das den Schluss nahe, dass sich die Menschen in schwierigen Zeiten gern mit Süßem trösten?

Schon frühere Untersuchungen zeigten, dass in Krisen ein Rückzug ins Private erfolgt. Da gönnt man sich kleinere Genüsse wie Naschereien oder Möbel für ein kuscheliges Zuhause, während bei Restaurant-, Theaterbesuchen oder Reisen gespart wird. Laut einer Studie streichen die Deutschen angesichts des Wirtschaftsabschwungs ihre Reisebudgets zusammen und wollen in diesem Jahr eher im Inland bleiben und statt Fernziele nahe gelegene Urlaubsländer wie Österreich, die Niederlande oder die Schweiz ansteuern.


Erst langsam sickert die Krise in das Bewusstsein der Deutschen ein. Groß scheint die Kluft zwischen den Schreckensnachrichten, die seit Monaten die Berichterstattung dominieren, und dem Alltag, in dem kaum etwas zu spüren ist. Kein brodelnder Volkszorn, keine nennenswerten Demonstrationen. „Ein Land unter Valium“, diagnostiziert die „Süddeutsche Zeitung“. Ist es eine Flucht vor der Realität?

„Die Bevölkerung reagiert relativ gelassen, weil die Krise bei vielen Leuten noch nicht angekommen ist“, sagt Klaus-Peter Schöppner, Geschäftsführer von TNS Emnid, Institut für Politik- und Sozialforschung in Bielefeld. „Es handelt sich aber bloß um eine vordergründige Gelassenheit. Die Symptome für Angst sind bereits da“, betont Schöppner. Angst nicht nur auf die eigene Situation bezogen, sondern „auf das, was der Staat macht. Die Deutschen sind in einer Findungsphase, sie nehmen Abschied von tradierten Wirtschafts- und Berufsbildern.“ Keiner weiß, wohin die Reise geht.


Von der oberflächlichen Gelassenheit darf man sich laut dem Meinungsforscher nicht täuschen lassen. „Die Deutschen sind auf dem Höhepunkt der Unsicherheit. Sie wissen nicht, welche Partei sie wählen sollen und was eigentlich zur Wahl steht. Die Frage ist: Müssen wir uns wirtschafts- und gesellschaftspolitisch völlig neu ausrichten?“ Die ständigen Hiobsbotschaften stellen eine Belastung dar, die mit Lethargie beantwortet wird. „Jeder, der unsicher ist, verhält sich erst mal ruhig. Aber die Ruhe ist höchst angespannt.“

Sublime Ängste, diffuse Erwartungen an die Politik, wachsendes Misstrauen, und „was etwa die SPD zum Besten gibt, ist eher dem Wahlkampf geschuldet. Diese Versprechen sind angesichts der hohen Verschuldung nicht haltbar, und die Leute durchschauen das“, so Schöppner. Statt kurzfristigen Aktionismus wären jetzt langfristige Konzepte gefragt, statt klassischen Wahlkampfs, in dem sich die Gegner zerfleischen, ein gemeinsames Auftreten der Parteien. Wohl ein frommer Wunsch.

Immer mehr zweifeln die Deutschen an den Fähigkeiten der Führungskräfte in Wirtschaft und Politik. 80 Prozent glauben, dass das Schlimmste erst kommt. Erst allmählich erwacht die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, wächst die Sorge um die eigenen Ersparnisse. Für große Verunsicherung sorgt, dass die meisten Menschen die Krise weiterhin nur erwarten, aber selbst noch keine Auswirkungen zu spüren bekommen. Noch dämpft die Kurzarbeit einen Anstieg der Arbeitslosigkeit, auch Anreize wie etwa die Abwrackprämie lenken ab.


Bisher leidet erst etwa ein Drittel der Deutschen unter der Krise. Arbeitnehmer in der Industrie, vor allem in der Autobranche, müssen sich akute Sorgen um Lohn und Arbeitsplatz machen. Die Exporte brechen ein, die Zahl der Insolvenzen steigt rasant an. „Jetzt sind die großen Räder gebrochen“, sagte Bundespräsident Horst Köhler jüngst bei seiner Berliner Rede, „wir werden Ohnmacht empfinden und Hilflosigkeit und Zorn.“

Bei manchen sind diese Gefühle schon da. So hat die Krise etwa die 76 Mitarbeiter des Berliner Architekturbüros von Norman Foster mit voller Wucht getroffen. An einem Dienstag im Februar erfuhren sie aus der Zeitung von der bevorstehenden Schließung der Filiale, am darauf folgenden Freitag (dem 13.) wurde diese offiziell verkündet. Just in jenem Raum, der noch im Vorjahr zur Vergrößerung des Büros angemietet worden war. Nach drei Tagen Unsicherheit und Irritation wurde der brutale Schritt ganz knapp erklärt, berichtet der damalige Mitarbeiter Bernd Weber (33). Der anwesende Anwalt übernahm dann das Aushändigen der Kündigungsbriefe. Sofortige Freistellung. Bereits wenige Stunden später wirkten die Büroräume gespenstisch leer. Nur einige kamen am Montag wieder, um ein Projekt zu beenden.

„Es war, als würde man einfach vom Tisch gewischt“, erzählt Weber, „der Einzelne zählt da gar nicht.“ Es sei ein Schock, so etwas von innen zu sehen. Zu erleben, wie kühl und rein wirtschaftlich orientiert so ein Betrieb arbeite. „Wie es geschehen und wie schnell es passiert ist, das hatte eine neue Qualität.“ Zwar war seit vergangenem Herbst absehbar gewesen, dass das Berliner Büro betroffen sein könnte, aber eine komplette Schließung hatten die wenigsten erwartet. Noch zu Weihnachten wurde üppig gefeiert.

Nach 16 Jahren ist also in Berlin Schluss mit Norman Foster, der etwa für die Reichstagskuppel und die neue Bibliothek der Freien Universität verantwortlich zeichnete. So viele Angestellte, so hohe Türme – man hätte nie gedacht, dass die Krise dort so schnell ankommen würde. Aber viele Projekte waren spekulativ, nährten sich aus der Finanzblase – „eine Welt, in der Grenzen und Maßstäbe verloren gegangen sind“, sinniert Weber.

Der junge Architekt ist zwar verärgert über den professionellen Verlust, zugleich aber voller Tatendrang. „Alles, was ich dort gelernt habe, will ich zusammenpacken und mich damit bewerben.“ Dem Zugewinn an Selbstbestimmung und Freiheit stehen freilich Geldsorgen gegenüber. Und Bedenken wegen der Lücke im Lebenslauf.

Vor Problemen wie diesen werden in den nächsten Monaten immer mehr Deutsche stehen. Experten erwarten ab dem Sommer einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit. Wenn die Krise und damit der Auftragsrückgang länger anhält, kann Personalabbau langfristig nicht verhindert werden. Die Prognosen werden immer vorsichtiger. Im vergangenen Herbst war zunächst bloß von einer Stagnation die Rede gewesen, erst allmählich nahmen die Experten das Wort Rezession in den Mund.

In der Folge wurden die Prognosen immer weiter nach unten korrigiert. Bis sich schließlich zuletzt das deutsche Institut für Wirtschaftsforschung überhaupt nicht mehr traute, für das Jahr 2010 noch Aussagen zu treffen. Aber die „abstrakten“ Zahlen scheinen die Deutschen ohnehin nicht zu beeindrucken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2009)

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