Großbritannien: Zwischen Zweifel und Selbstbehauptung

BRITAIN ROYALTY BIRTH
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In Großbritannien reden die etablierten Parteien an den Menschen vorbei. Die Wirtschaft kann den Wohlstand nicht mehr garantieren. Die Parlamentswahl in fünf Tagen könnte das alte System zertrümmern.

David Cameron hat in seiner Amtszeit den Fortbestand des Vereinigten Königreichs aufs Spiel gesetzt und die Zukunft seines Landes in der Europäischen Union infrage gestellt. Doch in Erinnerung bleiben wird er manchen für etwas, was im Leben eines Fußballfans nicht nur unverzeihlich, sondern schlicht undenkbar ist: Bei einer Rede gab er sich als Anhänger von West Ham United aus, während er sich bisher stets als Fan von Aston Villa bezeichnet hatte. Der ehemalige Chefredakteur des „Daily Mirror“, Piers Morgan, twitterte: „Das muss ihn die Wahl kosten.“

Tatsächlich machte die Verwechslung des Londoner Proletenvereins West Ham, zu Hause in einer der ärmsten Gegenden des Landes, mit dem Nobelverein Aston Villa aus Birmingham, der Prinz William zu seinen Fans zählt, mehr Schlagzeilen als die meisten politischen Aussagen Camerons im Wahlkampf. Bemerkenswert war, dass man dem Premier einen derart treulosen Wechsel aus Opportunität sofort zutraute. Auch fünf Jahre, nachdem er die Regierung übernommen hat, wissen die Briten noch immer nicht, wofür Cameron steht. Sein Glück ist, dass es sich mit Labour-Herausforderer Ed Miliband nicht viel anders verhält. Was das Publikum zu wissen glaubt, ist das Produkt umfassender PR-Operationen. Gar „einen Hauch von Pjöngjang“ meint die „Financial Times“ wahrzunehmen. Beide Politiker, von denen einer nach dem 7. Mai britischer Premier sein wird, sprechen nur mehr abgeschirmt vor handverlesenem Publikum. Es ist, als hätte Chelsea-Manager José Mourinho das Drehbuch des Wahlkampfs geschrieben: Defensive ist Trumpf.


Angst vor dem Wähler. Für die Angst vor dem Wähler gibt es Gründe: „Die Traditionsparteien – Konservative, Labour und Liberaldemokraten – sind nicht mehr in der Lage, eine klare Vision zu vermitteln, wofür sie stehen und was für ein Land sie schaffen wollen“, sagt Wahlforscher John Curtice von der Strathclyde University of Glasgow. Das wird mit Aussagen von zeitloser Beliebig- und Bedeutungslosigkeit zu übertönen versucht. Doch längst finden die drei Parteien bei der Mehrheit kein Gehör mehr. Der Wahlkampf von Labour ist auf das Erreichen der 35-Prozent-Marke ausgerichtet. Das mag taktisch clever sein, ist aber ein Zeichen der Selbstabdankung einer Volkspartei. „Sind Sie noch enttäuscht oder bereits angewidert?“, fragte der Moderator Robin Lustig sein Publikum bei einer Podiumsdiskussion in Ostlondon.

Die Gründe für die Entfremdung liegen in fundamentalen Veränderungen in der Gesellschaft. Großbritannien hat sich wie kaum ein anderes Land Europas ab den 1980er-Jahren der Globalisierung geöffnet. Der Siegeszug der freien Marktwirtschaft mit Betonung des selbstständigen Individuums hat versteinerte Strukturen zerschlagen und Produktivkräfte freigesetzt. Aber es führte auch zur Abwendung von kollektiven Einrichtungen von den Gewerkschaften bis zum Gesangsverein, die in einem Patchwork den Unterschied ausmachen zwischen einer Gesellschaft und einer Ansammlung von Individuen. Der linke Politphilosoph David Marquard schreibt: „Ein guter Kapitalismus ist unmöglich, wenn gute Menschen kein gutes Leben führen können.“

Lang vor dem Finanzcrash 2008 klagten die Briten bei steigenden Einkommen über sinkende Lebensqualität. Seither hat sich die Lage dramatisch verschärft. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wurde der Wachstumstrend der Wirtschaft gebrochen. Die Reallöhne stiegen heuer erstmals seit sieben Jahren, im ganzen Land entstanden Suppenküchen, während die konservativ-liberale Regierung Sozialleistungen kürzte. Die Armut mag nicht sichtbar sein, aber sie ist real. Nach dem „British Social Attitudes Survey“ ist „die Angst, mit meinem Geld nicht auszukommen“ die größte Sorge der Menschen.

Was noch schwerer wiegt, ist der Ausblick. Die Ungleichheit steigt und ist heute die höchste unter den großen EU-Staaten. Die Mittelklasse ist unter Druck. Wenn es eine soziale Tendenz gibt, dann weist sie nach unten, trotz einer Million neuer Jobs: „Der Motor der sozialen Mobilität ist zum Stillstand gekommen“, sagte Curtice unter Verweis darauf, dass es nichts mehr zum (Um)verteilen gibt. Für Labour – und alle Sozialdemokraten – ist das eine existenzielle Bedrohung.

In dem Feld der entwurzelten Wähler haben sich insbesondere die Scottish National Party (SNP) auf der Linken und die United Kingdom Independence Party (UKIP) auf der Rechten etabliert. „Man mag sie für naiv halten oder ablehnen“, meint Curtice, „aber sie haben eine klare Vision: Die SNP verspricht ein Schottland, das seine eigenen Angelegenheiten kontrolliert. UKIP sagt, wir wollen die Globalisierung nicht, denn sie bringt Einwanderung, die unsere eigenen Leute nach unten drückt.“


Historischer Sieg für SNP. Fest steht bereits, dass die SNP in Schottland einen historischen Wahlsieg feiern wird, der die Frage der Unabhängigkeit unweigerlich wieder aufs Tapet bringen wird. UKIP wird nicht weniger wahlentscheidend sein: Nur wenn es Cameron gelingt, möglichst viele Wähler „nach Hause“ zurückzuholen, kann er hoffen, Premier zu bleiben. Klar ist, dass am Donnerstag dank des Aufschwungs der Herausforderer das ewige Machtkartell Konservative/Labour zerstört werden wird. „Die Leute wollen alles außer die beiden“, sagt der Meinungsforscher Andrew Copper, ein Ex-Cameron-Berater.

SNP und UKIP profitieren auch von ihren charismatischen Führungsfiguren – Nicola Sturgeon und Nigel Farage –, die ihre Wähler erreichen. Die Konservativen haben allein mit dem Londoner Bürgermeister Boris Johnson einen Politiker, der ihnen Paroli bieten kann. Dass er Gewehr bei Fuß steht, die Tories bei einer Niederlage Camerons zu übernehmen, ist kein Zufall. Dass er inhaltlich nichts zu bieten hat, auch nicht.

Marquand kritisiert eine Dominanz des Präsentierens: Wichtig ist nur mehr, wie man auftritt, wie man unterhält und wie man gefällt. TV-Shows auf der Suche nach Supertalenten haben höhere Beteiligung als Wahlen. Todsünde ist es nicht, etwas Falsches zu sagen, sondern etwas Langweiliges.

Der Philosoph sieht das als Folge der Zerstörung der gemeinschaftlichen Strukturen und Bindungen. Umgekehrt ist eine Gesellschaft wie die britische durchlässiger als starre Ordnungen. Wo die Grenzen zwischen Toleranz und Gleichgültigkeit liegen, ist möglicherweise Betrachtungssache. Laut „Social Attitudes Survey“ glauben die Briten zwar, dass 31 Prozent der Bevölkerung im Ausland geboren wurden, obwohl es in der Volkszählung 2011 13 Prozent waren. Gleichwohl stehen 44 zu 32 Prozent insgesamt positiv zur Einwanderung. Am schlechtesten wird der Einfluss auf das Gesundheitswesen bewertet – 57 Prozent beurteilen dies negativ, nur 21 Prozent positiv.

Das staatliche Gesundheitswesen („eine Art Religionsersatz “, so der Labour-Abgeordnete John Reed) kracht tatsächlich in allen Fugen. Was 1945 als universale Versorgung für 49 Millionen Menschen mit einer Lebenserwartung von 65 Jahren konzipiert worden ist, kann mit einer Bevölkerung von 63 Millionen und einer Lebenserwartung von 80 Jahren nicht mehr funktionieren. Ohne ausländische Hilfskräfte, das geben selbst UKIP-Politiker zu, wäre das System längst kollabiert. Doch zu einer Reform ist man nicht bereit: „Das ist unser unausgesprochener Sozialkontrakt“, sagt der Ökonom Stephen Booth.

Ähnlich überfordert ist das Land mit Wohnraum, dessen astronomische Preisentwicklung einen chronischen Mangel illustriert. Bis zu 200.000 neue Wohnungen müssten jedes Jahr gebaut werden. Nach dem „Survey“ sind Wohnen und Gesundheitswesen nach persönlicher Finanzlage die Hauptsorgen der Wähler.


Royales Baby bestimmt Schlagzeilen. Diese Themen stehen auch auf der Liste der Politiker – wenngleich am gestrigen Samstag nur eine Nachricht die mediale Öffentlichkeit Großbritanniens bestimmte: Die Königsfamilie verkündete via Twitter, dass Prinz Williams Frau Kate am Morgen ihr zweites Kind – eine Tochter – zur Welt gebracht hatte (siehe Society Seite 40).

Spätestens am Wahltag aber wird sich wieder alles um die Frage drehen, welche Partei die Zukunft Großbritanniens bestmöglich gestalten kann. Doch was will die britische Gesellschaft eigentlich von der Zukunft? John Curtice: „Verschiedene Menschen haben verschiedene Visionen und verschiedene Narrative. Darum geht es in der Politik: Die einen wollen eine fairere Gesellschaft, die anderen mehr Marktkräfte. Für die Politik geht es darum, einen Ausgleich herzustellen. Was wir jetzt sehen, ist, dass keine der großen Parteien dazu fähig ist.“

Wahlen & Zahlen

650Wahlkreise stimmen am kommenden Donnerstag in Großbritannien ab. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts zieht nur jener Kandidat ins Parlament ein, der die meisten Stimmen auf sich vereint.

59Sitze hat Schottland zu vergeben. Und im Norden der britischen Insel könnte es zu einem Erdrutsch kommen: Die Unzufriedenheit mit der in Schottland dominierenden Labour Party könnte den schottischen Nationalisten (SNP) zu einem historischen Triumph verhelfen, zu allen 59 Mandaten.

DIE SPITZENKANDIDATEN

David Cameron kämpft als Premier um eine Wiederwahl – eine dritte Amtszeit hat er von vornherein ausgeschlossen. Die Liberaldemokraten, der Koalitionspartner der Konservativen, werden laut Umfragen jedoch einbrechen.

Ed Miliband hat als Labour-Spitzenmann und als Underdog im Wahlkampf Profil gewonnen. Er wird allerdings auf die Unterstützung der schottischen Nationalisten (SNP) unter Nicola Sturgeon angewiesen sein, die als starke neue Kraft auftreten. Die UKIP unter ihrem Führer Nigel Farage bricht das frühere britische Zweiparteiensystem vollends auf.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2015)

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