Universität Donezk: "Mit russischen Diplomen gibt es Zukunft"

Studenten während eines Seminars an der Nationalen Universität Donezk.
Studenten während eines Seminars an der Nationalen Universität Donezk.imago/ITAR-TASS
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Junge Menschen in den ostukrainischen Separatistengebieten erwarten sich von einer stärkeren Anbindung an Russland bessere Aussichten für die Zukunft. Das Verhältnis zu Gleichaltrigen im Rest des Landes verschlechtert sich.

Als die Hymne der Nationalen Universität Donezk erklingt, fassen sich Artjom Iwanjuk und die anderen Studenten an den Händen und laufen im Kreis, trippeln zusammen und trippeln wieder auseinander. Es sind Schritte, die sie schon oft gelaufen sind, und sie singen die Hymne laut und ausgelassen mit. In ukrainischer Sprache. „Wir singen die Hymne noch immer auf Ukrainisch“, erklärt Artjom Iwanjuk. „Wir achten unsere Geschichte.“ Iwanjuks Satz wiegt schwer. Die Betonung liegt auf drei Wörtern: Auf dem Wir, der Achtung, und auf der Geschichte.

Donezk im Mai 2015. Seit mehr als einem Jahr haben in der Donbass-Metropole die von Russland unterstützten Separatisten das Sagen. Geschichtspolitik spielte von Anfang an eine wichtige Rolle, wurde der Aufstand im Donbass doch als Reaktion auf den „Putsch in Kiew“ und die Machtergreifung der dortigen „Faschisten“ kommuniziert. In mehreren Wellen erlebte die Stadt schweren Beschuss. Derzeit hat sich die Lage beruhigt, Detonationen sind nur aus der Ferne zu hören. Übereifrige Schützen jagen am Abendhimmel feindliche Drohnen, ein paar Maschinengewehrsalven, dann ist es wieder still. Die Bürger scheinen die Laute des Krieges gar nicht mehr richtig zur Kenntnis zu nehmen.

Mit der Verfestigung des Konflikts wird das Umschreiben der Geschichte relevant – und damit die Frage des Geschichtsunterrichts an Schulen und Universitäten. Schließlich geht es um die Jugend, um die künftigen Bürger der selbst ernannten Donezker Volksrepublik (DNR). Neue Lehrpläne gibt es noch nicht, nur allgemeine Richtlinien, erstellt vom prorussischen Bildungsminister Igor Kostenok. Der erklärte in einem Interview, dass es künftig an Schulen kein Fach „Ukrainische Geschichte“ mehr geben wird. Dagegen würde die Geschichte des Donbass und der DNR ausführlich behandelt.

Ja, die Ukraine ist Geschichte hier im Festsaal der Donezker Nationalen Universität mit seinen 680 Sitzplätzen, holzgetäfelten Wänden und dem wuchtigen weißen Balkon. Der 20-jährige Artjom Iwanjuk – Undercut, Dreitagebart, schwarze Röhrenjeans – studiert mit seinen Kollegen ein Festtagsprogramm zu Ehren der Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges ein. Noch sitzen nicht alle Bewegungen des Mädchentrios, das zu dem mit Discobeat adaptierten Soldatenlied „Als ich aus Berlin zurückkam“ eine Choreografie übt. Ein paar Tage bleiben noch bis zur Aufführung am 7. Mai.

Von einer wichtigen „Ehrung der Alten“ spricht Sergej Walow, der mit den Jugendlichen die Szenen einstudiert. Hier im Donbass wird die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg hochgehalten, der Krieg forderte in den Familien viele Opfer. Die Sowjets kamen als Befreier und sind es bis heute geblieben. Die kritische Aufarbeitung des Stalinismus oder von Sowjetmythen stößt größtenteils auf Unverständnis. Auch im Programm, das die Studenten einstudieren, wird die sowjetische Geschichte als Erfolgsstory dargestellt: der Sieg über die Nazis, der Bau der Baikal-Amur-Magistrale, Juri Gagarin im Kosmos. Und was kam 1991? Regisseur Walow hat sich entschlossen, die Historie der unabhängigen Ukraine weitgehend auszulassen. „Da gibt es nicht viel Schönes zu berichten.“ Ab 1991 folgt die Geschichte des Donbass. Dass Donezk in den 1990ern eine Bandenmetropole war, Schauplatz unzähliger Morde, lässt Walow aus. Man wolle keine allzu ernsten Geschichten erzählen, erklärt er.

Dolmetschstudent Iwanjuk und die anderen sind sich einig in ihrer Ablehnung des Maidan, des Aufstandes, der den früheren Präsidenten Viktor Janukowitsch aus dem Amt gejagt hat und in dessen Folge sich die Ereignisse überschlugen: die Annexion der Krim durch Russland, die Besetzungen strategischer Gebäude im Donbass durch prorussische Aktivisten, das Referendum der selbst ernannten Volksrepubliken, der Krieg im Osten. Der junge Mann, der mit seinem Hipster-Outfit so gar nicht dem stereotypen Bild eines Donbass-Bewohners entspricht, ist zum Ergebnis gekommen, dass die Volksrepublik die besten Entwicklungschancen bei einer Vereinigung mit Russland hätte. Für den Studenten sind Russen, Ukrainer und Weißrussen allesamt ein großes Volk, das man nicht auseinanderdividieren solle. Genau das haben seiner Meinung nach aber die neuen Vertreter Kiews getan.


Universitäten im Exil. DNR-Bildungsminister Kostenok spricht in Interviews gerne von der Zukunft. Die personellen Verluste an den Universitäten würden nur „bis zu 15 Prozent“ betragen, an Schulen „bis zu zehn Prozent“. Dennoch: Die Lage im Bildungssektor in den Separatistengebieten ist alles andere als rosig. Schulen wurden im Krieg zerstört, der Unterricht fiel aus, den Behörden fehlt Geld. Mehrere Hochschulen in der Region sind seit dem Herbst in ukrainisch kontrollierte Gebiete übersiedelt. Die Hälfte der Lehrenden von Iwanjuks Hochschule ist in das podolische Winniza gezogen, hat eine neue Donezker Nationale Universität im Exil eröffnet. Ähnliches bei anderen Einrichtungen: Die Donezker Management-Universität befindet sich heute in Mariupol, die Architektur-Hochschule im ukrainisch kontrollierten Kramatorsk, die Luhansker Schewtschenko-Universität in Starobilsk. So haben sich die Hochschulen zwar die Finanzierung durch den ukrainischen Staat gesichert, ihre Akkreditierung beim Bildungsministerium und die bestehenden internationalen Kooperationen, doch ob sie alle weiter werden existieren können, ist unklar.

Vladimir Katschan beurteilt die Lage als kritisch. Er hat lange Jahre an der Universität für Management unterrichtet, im März ging er in Pension. „Der Bildungssektor im Donbass ist fast komplett zerstört worden“, sagt er. „Die kreative Bevölkerung ist nach Russland oder in die Rest-Ukraine gegangen.“ Geblieben seien die weniger Qualifizierten. 1,2 Millionen Menschen sind aus den Gebieten Donezk und Luhansk abgewandert. Tatsächlich haben viele Fachkräfte und gut ausgebildete Menschen die Region verlassen.

Die 39-jährige Mascha hat sich entschlossen zu bleiben, aus finanziellen Gründen. Es könne ja „nicht die ganze Stadt abwandern“, sagt sie. Die junge Frau mit dem langen schwarzen Haar sitzt in der Nähe der Universität in einem Café, im Hintergrund läuft Independent-Pop. Die Assistentin an der Juridischen Fakultät der Donezker Uni kann sich Cafébesuche nicht mehr so oft leisten wie früher: Ihren Lohn hat sie seit Februar nicht mehr erhalten. „Der Krieg wird als Ausrede benutzt.“ Maschas Dissertation mit dem Thema Toleranz in der Schulbildung hat sie nicht mehr mit einem ukrainischen Diplom abschließen können. Die Donezker Volksrepublik kam dazwischen. Nun hofft auch sie auf einen russischen Abschluss. „Wenn wir russische Diplome bekommen, dann gibt es eine Zukunft hier“, sagt sie. Denn DNR-Diplome erkennt kein Staat der Welt an.

Mascha erzählt davon, dass die Kluft zwischen den Verbliebenen und ihren abgewanderten Kollegen in der Ukraine immer größer werde. In den Gesprächen versuche sie, politische Themen zu vermeiden, sonst gerate man doch nur aneinander. „Ich will in einer Ukraine leben, wie sie vor dem Maidan war“, sagt die junge Frau. Ein Wunsch, dessen Erfüllung ihr versagt bleiben wird.

Fakten

1,2Millionen
Inlandsvertriebene (IDP) gibt es seit Beginn des Konflikts im Donbass.

1520,1Millionen Dollar
Auf diese Summe schätzt die ukrainische Regierung den Investitionsbedarf im kriegszerstörten Donbass.

15%Verluste.
Der Bildungsminister der De-facto-Regierung in Donezk schätzt den personellen Verlust an Uni-Lehrenden und Studierenden auf maximal 15 Prozent.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2015)

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