Hielt Pakistan Osama bin Laden seit 2006 gefangen?

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Der amerikanische Aufdecker Seymour Hersh stellt in einem detaillierten Bericht die offizielle Version von der Tötung des Terroristenführers Bin Laden vor vier Jahren infrage und bezichtigt das Weiße Haus der Lüge.

Washington. Die offizielle Geschichte vom Ende der mehr als zehnjährigen Jagd der US-Geheimdienste auf den Terroristenführer Osama bin Laden am 2. Mai 2011 ist berühmt, der Hollywood-Film „Zero Dark Thirty“ hat sie ins kollektive Gedächtnis der Weltöffentlichkeit gebrannt: Nach jahrelanger akribischer Recherche und unterstützt durch mehr als zweifelhafte Foltermethoden kamen die Terrorfahnder von CIA und NSA auf die Spur eines Anwesens in der pakistanischen Provinzstadt Abottabad, in der sich der Gründer der Terrororganisation al-Qaida samt seinen Ehefrauen und Kindern heimlich, aber schwer bewacht versteckt hält.

Ein pakistanischer Arzt wurde unter dem Vorwand ausgeschickt, Polio-Impfungen durchzuführen, in Wahrheit aber zog er DNS-Proben und bestätigte die Identität Bin Ladens. Dann, im Schutz der Nacht, rauschten zwei schallgedämpfte Black-Hawk-Hubschrauber heran, düpierten die pakistanische Luftüberwachung, lieferten sich einen Feuerkampf mit Bin Ladens Leibwächtern und erschossen den Terroristenführer, der nach einer Kalaschnikow griff, in Notwehr. Die schneidige Navy-Seals-Sondereinheit packte rasch die Leiche und haufenweise Computer mit brandheißen Informationen über Bin Ladens Weisungen an al-Qaida-Zellen weltweit ein und flog unbeschadet nach Afghanistan. Bin Ladens Leichnam wurde Stunden später auf den Flugzeugträger USS Carl Vinston geflogen, wo er gewaschen, eingehüllt und unter standesgemäßen islamischen Riten im Indischen Ozean bestattet wurde.

Hausarrest in Abottabad?

Diese Version des größten Erfolgs von US-Präsident Barack Obama im Kampf gegen den jihadistischen Terror ist jedoch am Sonntag ins Wanken geraten. Zumindest wenn man den Ausführungen des Aufdeckers Seymour Hersh Glauben schenkt. Die „London Review of Books“ veröffentlichte das 10.356 Wörter umfassende Ergebnis der Recherchen Hershs zur Frage, wie die US-Dienste Bin Laden wirklich erwischt haben. Der Pulitzer-Preisträger Hersh, der unter anderem 1968 das Massaker von US-Soldaten an vietnamesischen Zivilisten in My Lai und 2004 die Folter im irakischen US-Militärgefängnis Abu Ghraib enthüllt hat, kommt zu einem bemerkenswerten Schluss: Bin Laden war seit 2006 in den Händen des pakistanischen Geheimdienstes ISI Gefangener in Abottabad; sie nutzten ihn als Geisel, um al-Qaida und die Taliban von Aktionen abzuhalten, die Pakistans Interessen widersprochen hätten.

Ein pakistanischer Geheimdienstmann verriet der CIA diesen Umstand, weil er die Prämie von 25 Millionen Dollar für Hinweise zur Ergreifung Bin Ladens einstreifen wollte. Die Pakistaner willigten daraufhin in die Tötung des Terrorpaten ein, um im Gegenzug wieder Geld und Waffen von den USA zu erhalten. Pakistanische Geheimdienstmänner halfen den USA bei Planung und Durchführung der Operation vom 2. Mai 2011, bei der – entgegen der Darstellung des Weißen Hauses – die US-Spezialkräfte auf keinen Widerstand stießen. Bin Ladens Körper wurde von Kugeln derart stark verstümmelt, dass es unwahrscheinlich sei, dass seine angebliche Seebestattung tatsächlich stattgefunden hat.

„Pakistan war informiert“

„Die größte Lüge war, dass die beiden höchsten pakistanischen Militärführer nie über die US-Mission informiert worden seien“, schreibt Hersh unter Berufung auf ehemalige US-Geheimdienstleute: Sowohl der damalige Generalstabschef, Ashfaq Parvez Kayani, als auch Ahmed Shuja Pasha, damals Generaldirektor von ISI, hatten die Tötung Bin Ladens abgesegnet. Beide wussten davon und sorgten dafür, dass die US-Hubschrauber in der Nacht des 2. Mai 2011 ungestört an- und abfliegen konnten; ein ISI-Verbindungsoffizier flog an Bord eines der Black-Hawk-Helikopter mit und wies den Navy Seals den Weg zu Bin Ladens Zimmer.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.05.2015)

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