Mazedonien: Zertrümmerte Häuser, zerrütteter Staat

150509 KUMANOVO May 9 2015 Two armed policemen patrol in a street in the town of Kumanovo
150509 KUMANOVO May 9 2015 Two armed policemen patrol in a street in the town of Kumanovoimago/Xinhua
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Eine Woche nach den Gefechten in Kumanovo spitzt sich der Machtkampf in Mazedonien zu. Die Opposition will den Rücktritt des umstrittenen Premiers, Nikola Gruevski, erzwingen.

Verkohlte Dachbalken und von Einschusslöchern zersiebte Mauerreste: Von seinem einstigen Geburtshaus in der Kodra- und Trimave-Straße ist Sejladin nur ein tristes Trümmerfeld geblieben. Vom unerwarteten Krieg wurde der hagere Mann im mazedonischen Kumanovo am vergangenen Samstag frühmorgens im Schlaf und in seinen einstigen vier Wänden ereilt: „Bum, Bum, Bum – 13 Stunden lang.“ Er brachte sich hinter dem Sofa in seinem Wohnzimmer vor Querschlägern in Sicherheit und harrte dort mit seiner 74-jährigen Mutter und seiner Frau aus. Erst als nach einem Granateneinschlag der Dachstuhl am frühen Abend Feuer fing, rannte er aus seinem brennenden Haus: „Kommen wir im Feuer oder im Kugelhagel um: Zeit zum Nachdenken ist nicht geblieben, wir wollten nur unseren Hals retten.“

Ausgebrannte Autowracks in von Betonbrocken verschütteten Straßen, klaffende Löcher in den verkohlten Fassaden. Schaulustige und die Kameramänner lokaler TV-Teams staken stumm über die Trümmer des verlassenen Schlachtfelds. Stumm kauern die einstigen Bewohner auf Backsteinen oder Plastikstühlen wie fassungslose Trauernde am Totenbett vor ihrem zerstörten Besitz. Auch knapp eine Woche nach den blutigen Kämpfen im mazedonischen Kumanovo können viele kaum fassen, wie und warum der Krieg über sie hereingebrochen ist. Er sei einfach zu deprimiert, stehe noch „immer unter Schock“ und könne zu den Vorfällen gar nichts sagen, sagt leise der ratlose Sejladin: „Ich kann nicht mehr essen und schlafen. Sie haben uns die Seele und das Herz genommen.“

„Wir wurden nicht gewarnt.“ Bei manchen Häusern sind ganze Wände weggesprengt. Wie könne die Polizei ohne Vorwarnung „und mitten in der Nacht“ ein ganzes Wohnviertel unter Beschuss nehmen, erregt sich aufgebracht ein heftig gestikulierender Anwohner: „Warum wurden die Zivilisten nicht zuvor gewarnt oder die gesuchten Leute nicht per Megafon zunächst einmal aufgefordert, sich zu ergeben? Hier schliefen Alte, Frauen und Kinder. Und die Polizei ließ das Viertel sofort selbst mit Panzern beschießen. Immer trifft es uns Albaner, immer sind wir an allem schuld. Aber wir sind doch nicht Asien, hier ist Europa!“

Zwei Tage wüteten die Kämpfe von Kumanovo, die insgesamt 22 Menschenleben forderten. Die Polizei habe eine aus dem nahen Kosovo eingesickerte Terroristengruppe „neutralisiert“, ließ hernach die Regierung des rechten, mazedonisch-nationalen Premiers, Nikola Gruevski, verlauten. Doch in dem überwiegend von ethnischen Albanern besiedelten Viertel mag niemand an die diese These glauben.

Im Viertel habe es nie Probleme zwischen Mazedoniern und Albanern gegeben, versichert vor seinem zerstörten Elternhaus Muamet Fejzuli, der von einem von der Regierung „inszenierten Terror gegen die Albaner“ spricht: „Um ihre Stühle zu retten, haben sie hier ein Massaker anrichten lassen – gegen das eigene Volk.“ Einen der Getöteten habe er persönlich gekannt, berichtet der Lehrer, der 23 Jahren als Gärtner in Stuttgart gearbeitet hat: „Er lebte von seiner Ziegenherde und hatte sein ganzes Leben das Auskommen für seine Familie mit harter Arbeit verdient. Nun wurde er getötet – und posthum zum Terrorist erklärt.“

Je höher die Fahnenmasten und Denkmalshünen, desto größer die Probleme. 40 Kilometer südlich von Kumanovo verdecken im Zentrum der Hauptstadt unter Europas höchstem Alexander-dem-Großen-Denkmal wieder einmal Bauzäune den freien Blick auf den bizarren Monumentenwald von Skopje. „Jetzt nörgeln alle an der Polizei und der Regierung herum“, schnaubt im Schatten des neu errichteten Triumphbogens missmutig ein Taxifahrer. Dabei würde in den USA „mit solchen Terroristen kurzer Prozess“ gemacht: „Sollen die Albaner doch alle ihre Häuser nehmen – und mit ihnen zurück in den Kosovo gehen.“

Zertrümmerte Häuser, zerrütteter Staat. Vor einem halb leeren Parlament werden im Blitzlichtgewitter der Kameras in der Hauptstadt die Nachfolger für die abgetretenen Innen- und Transportminister vereidigt. Von der Opposition wird das Parlament schon seit über einem Jahr wegen der ihrer Meinung nach manipulierten Wahlen boykottiert: Für sie sind nicht so sehr ethnische Spannungen zwischen der mazedonischen Mehr- und albanischer Minderheit die Wurzel der gegenwärtigen Misere im labilen Vielvölkerstaat, sondern vielmehr die „Willkürherrschaft der Regierung“.

Eine rote Faust auf gelbem Stern prangt über den Köpfen des sich um Oppositionsführer Zoran Zaev scharenden Präsidiums der sozialdemokratischen SDSM. Aus den Lautsprechern klingt glasklar die Stimme des hart kritisierten Premiers, der darin offenbar in einem vom eigenen Geheimdienst aufgezeichneten Telefonat mit seiner nun abgetretenen Innenministerin, Gordana Jankuloska, den verdeckten Ankauf einer Luxuslimousine für knapp 600.000 Euro diskutiert. „Fantastisch“, meldet hernach in einem weiteren Telefonat die stolze Ministerin Vollzug: „Dies ist der beste Mercedes in ganz Südeuropa.“

Skandal um abgehörte Telefonate. Seit Februar hat Oppositionschef Zaev über 30 Mitschnitte ihm angeblich aus Geheimdienstkreisen zugespielter Abhörprotokolle und Aufnahmen von Telefonaten abgehörter Würdenträger veröffentlicht. Ob Wahlmanipulationen, die Gleichschaltung der Medien, Ausschaltung politischer Gegner, inszenierte Verhaftungen oder die Vertuschung von Mordfällen: Die sogenannten Bomben der Opposition offenbaren Abgründe des Machtmissbrauchs der Regierung.

Die „verlogenen und kreierten“ Mitschnitte habe die Opposition von einem „ausländischen Geheimdienst“ erhalten, behauptet der in Bedrängnis geratene Premier. Doch mit Innenministerin Jankuloska und Geheimdienstchef Sašo Mijalkov haben in dieser Woche nun erstmals zwei der Hauptakteure des Abhörskandals ihren Posten räumen müssen. „Gruevski will mit ihrem Abtritt seinen Kopf retten. Aber das wird ihm nicht gelingen“, erklärt Oppositionschef Zaev unter donnerndem Applaus seiner Anhänger.

Dem Drängen der Regierung und der EU-Botschafter, ins Parlament zurückzukehren, erteilt der Mann im weißen Hemd erneut eine Absage: „Die Mehrheit der Mazedonier weiß genau, warum die Opposition dem Parlament fernbleibt. Das Parlament ist illegitim, wurde weder auf faire noch auf freie Weise gewählt. Wir kehren ins Parlament zurück, wenn Gruevski zurückgetreten ist und die Schritte zur Schaffung einer Übergangsregierung definiert sind.“

Opposition ruft zu Kundgebung auf. Wie lang wird sich der angeschlagene Premier noch halten können? Der Druck auf Gruevski nimmt zu: Selbst in der internationalen Arena mehren sich die Stimmen, die seinen Rücktritt fordern. Entschlossen ruft die Opposition ihre Anhänger für den Sonntag zu einer Großdemonstration gegen die Regierung in Skopje auf.

Während sich die Hauptstadt zum Finale in Mazedoniens Machtkampf rüstet, haben die Menschen im Trümmerhaufen von Kumonovo noch immer mit der Bewältigung der erlebten Schrecken zu kämpfen. Tränen laufen dem stoppelbärtigen Camil Azemi über die Wangen, während der Blinde im Hof seines zerstörten Anwesen über seine erlittenen Torturen erzählt.

Erst habe die Polizei nach den stundenlangen Schießereien seine Kuh erschossen und seinen Bruder an der Schulter verletzt, dann ihn und seinen Neffen gefesselt „wie Müll“ auf einen LKW geworfen. „Sie ließen mich auf der Wache auf einem Bein stehen, schlugen mich, drohten mir Stromschläge und Ertränken im Fluss an“, so der fassungslose Mann. Der Polizist habe ihn angeschnauzt, dass sein Kollege erschossen worden sei: „Ich sagte ihm, dass ich nie jemanden töten würde – und als Blinder auch kaum in der Lage dazu bin. Wir sind arme Leute, haben uns nie etwas zu Schulden kommen lassen. Was ist das für ein Staat, der selbst seine Behinderten quält?“

ALBANER-REVOLTE

Anfang 2001 startete die Nationale Befreiungsarmee (UÇK) einen Aufstand. Die albanischen Kämpfer forderten mehr Rechte für die albanische Volksgruppe in Mazedonien.

Am 13.August 2001 wurde das Ohrid-Abkommen geschlossen: ein Fahrplan zur Verbesserung der Lage der Albaner. Die Kämpfe endeten.

Am 9. und 10.Mai 2015 startete die Polizei in Kumanovo Operationen gegen albanische Untergrundgruppen.

ÜBERS MEER

40tausend Flüchtlinge haben allein heuer bereits das Mittelmeer überquert – und dabei hat die sommerliche Hochsaison noch nicht einmal eingesetzt. Im Vorjahr waren es insgesamt 219.000 Flüchtlinge, die an Europas Küsten strandeten, davon fast ein Drittel Syrer.
Das zweitgrößte Kontingent stellen Eritreer, gefolgt von Afghanen.

Laut einer Statistik der Grenzschutzagentur Frontex für die vergangenen fünf Jahre liegen dahinter Bootsflüchtlinge aus Tunesien, Somalia, Nigeria und den Palästinensergebieten.

291Kilometer sind es von Zuwara, dem Ausgangshafen in Libyen, nach Europa – zu den Inseln Lampedusa (Sizilien) und Malta.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2015)

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