USA: Taliban warnten Bin Laden vor 9/11-Anschlägen

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Das Weiße Haus gab Osama bin Ladens „Bibliothek“ frei: eine Liste von Büchern, Papieren und Briefen, die der al-Qaida-Gründer in seinem pakistanischen Versteck gehortet hatte. Er war an straffer Organisation interessiert und sah den Arabischen Frühling als Chance für Jihadisten.

Washington. Rund 80 neu veröffentlichte Dokumente aus dem Besitz von Osama bin Laden, Gründer und Führer der islamistischen Terrororganisation al-Qaida, erlauben einen tieferen Einblick in seine Weltsicht und strategischen Überlegungen. Bin Laden war bis vor seiner Tötung durch US-Sondereinsatzkräfte im pakistanischen Abottabad im Mai 2011 an den Details der Kampagnen von al-Qaida ebenso interessiert wie am Umgang der US-Regierung mit dem Jihadismus. Er befasste sich mit der Frage, ob und wie sich Anschläge in Frankreich durchführen lassen könnten, und war von den im Jahr 2010 beginnenden Protestwellen des Arabischen Frühlings ebenso überrascht, wie er sie rasch als Chance für al-Qaida sah.

Die vom Weißen Haus publizierte Liste von Büchern, Zeitungsartikeln, Briefen und sonstigen Papieren aus Bin Ladens Besitz, die vor vier Jahren bei der Razzia der US-Soldaten beschlagnahmt worden sind, schärft die Konturen von Bin Ladens Charakter, in dem sich Detailversessenheit und eine teils bemerkenswert klare Sicht auf das Scheitern des US-Krieges gegen den Terror mischten.

Bin Laden war etwa bemüht, seine Organisation zu straffen und zu professionalisieren. Wer sich al-Qaida anschließen wollte, musste einen dreiseitigen Bewerbungsbogen ausfüllen, der unter anderem folgende Fragen enthielt: „Haben Sie militärische Ausbildung erhalten? Waren Sie jemals auf dem afghanischen Schlachtfeld tätig? Nennen Sie alle Reisepässe, die Sie besitzen. Wünschen Sie, eine Selbstmordoperation auszuführen? Welche Ziele wollen Sie auf dem Pfad Ihres Jihad erreichen? Wen sollen wir kontaktieren, falls Sie zum Märtyrer werden?“

In einem offenen, aber nicht verschickten Brief ans amerikanische Volk warnt Bin Laden vor der Sinnlosigkeit militärischer Kampagnen gegen al-Qaida. „Wie wollt Ihr einen Krieg gewinnen, dessen Führer pessimistisch sind und dessen Soldaten Selbstmord verüben?“, schrieb Bin Laden irgendwann zwischen 2009 und 2011. „Wenn Angst die Herzen der Männer ergreift, wird es unmöglich, den Krieg zu gewinnen. Wie wollt Ihr einen Krieg gewinnen, dessen Kosten wie ein Hurrikan an Eurer Wirtschaft rüttelt und Euren Dollar schwächt?“

Ablenkung von Hersh-Enthüllung

Die interessanteste neue Erkenntnis lässt sich aus mehreren Schreiben ableiten, denen zufolge die radikalislamischen Taliban, Bin Ladens langjährige Gastgeber in Afghanistan, ihm von den Anschlägen des 11. September 2001 ebenso abgeraten haben dürften wie von jenen gegen das Kriegsschiff U.S.S. Cole ein Jahr zuvor im Jemen. Das Verhältnis zwischen al-Qaida und Taliban war offenkundig zusehends zerrüttet; schon vor vier Jahren bestätigte Robert Grenier, CIA-Chef in Pakistan zum Zeitpunkt der Anschläge, dass die Taliban knapp nach 9/11 angeboten hätten, Bin Laden an die USA auszuliefern. Man habe das jedoch als Täuschungsmanöver betrachtet und verworfen.

Bemerkenswert ist der Zeitpunkt dieser Veröffentlichung durch das Büro des Direktors für Nationale Sicherheit. Erst vor knapp zwei Wochen hat der Journalist Seymour Hersh in der „London Review of Books“ behauptet, Bin Laden sei seit 2006 unter Hausarrest des pakistanischen Geheimdienstes gestanden und 2011 aus taktischen Überlegungen an die CIA verraten worden; pakistanische Geheimdienstleute hätten das US-Sonderkommando nach Abottabad geführt. „Jedes Mal, wenn die Amerikaner sich auf Bin Laden konzentrieren statt auf die Kosten von mehr als 13 Jahren Krieg gegen den Terrorismus, ist das ein Gewinn für Obama“, kommentierte Micah Zenko, Terrorexperte vom Council on Foreign Relations, den Zeitpunkt der neuen Veröffentlichung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2015)

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