Abhöraffäre: Rücktrittswelle in Polen

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Polens Premierministerin Ewa Kopacz säuberte ihre Regierung. Auch Parlamentspräsident Sikorski nahm den Hut.

Warschau. „Das Land wird destabilisiert, wir brauchen Neuwahlen“, sagt Anna Bańkowska. Die Abgeordnete des oppositionellen Linksbündnisses SLD hat am Donnerstag im Sejm, dem polnischen Parlament, einen Antrag auf eine sofortige Verkürzung der Legislaturperiode gestellt. Stimmen zwei Drittel der Angeordneten zu, finden in Polen bereits im Sommer Neuwahlen statt.

Anlass ist eine Rücktrittswelle in der Regierungsmannschaft der rechtsliberalen Premierministerin, Ewa Kopacz. Sie hatte Donnerstagabend die Demission des Gesundheits-, Sport- und Schatzministers sowie dreier Vizeminister bekannt gegeben. Ihnen folgte wenig später der zweite Mann im Staat, Parlamentspräsident Radosław Sikorski. „Aus Sorge um die regierende Bürgerplattform, die als einzige Polens guten Ruf im Ausland retten kann, trete ich zurück“, sagte der Ex-Außenminister.

Sikorski büßte zum zweiten Mal für seine Entgleisungen in 2014 abgehörten Privatgesprächen in einem teuren Restaurant. Zwei Kellner hatten damals fast hundert Treffen zwischen Politikern und Geschäftsleuten aufgenommen. Nachdem einige Gesprächsprotokolle vom Nachrichtenmagazin „Wprost“ publiziert worden waren, mussten Sikorski und Innenminister Bartłomiej Sienkiewicz gehen. Weitere Konsequenzen zog der damalige Premier und heutige EU-Ratspräsident, Donald Tusk, aus der Abhöraffäre indes keine.

Prozessakten veröffentlicht

In der Nacht zum Montag hat allerdings der wegen seines Behördenhasses in den sozialen Netzen bekannte Autohändler Zbigniew Stonoga 2500 Seiten Prozessakten aus dem juristischen Nachspiel der Abhöraffäre veröffentlicht. Die Staatsanwaltschaft versucht seit über einem Jahr, die Hintermänner des Lauschangriffs zu finden. Dabei wird man den Eindruck nicht los, sie würde manchmal mehr verschleiern als aufklären. Tusk hat zu Beginn des Skandals die Schuldigen noch in Moskau gesucht, später sollte ein polnischer Kohlehändler den Auftrag zum Lauschangriff erteilt haben, um an der Börse Insidergeschäfte zu tätigen.

Tusks Nachfolgerin, Kopacz, zog nun – durch Veröffentlichung der Prozessakten via Facebook unter Druck gesetzt – die Notbremse. Zurücktreten mussten alle Minister und Vizeminister, die in dem Restaurant abgehört wurden. „Wir können uns mitten im Wahlkampf nicht mit Tonbändern belasten“, erklärte sie. Ihre Bürgerplattform (PO) steht nach der überraschenden Wahlniederlage des Staatspräsidenten Bronisław Komorowski mit dem Rücken zur Wand. Bereits im Oktober stehen Parlamentswahlen an. In Umfragen liegt die oppositionelle Kaczyński-Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit 32 Prozent klar vor der PO (24 Prozent) und der Formation des rechtspopulistischen Rocksängers Paweł Kukiz (20 Prozent). Die linke SLD würde mit nur zwei Prozent die Fünfprozenthürde verpassen. Mit dem Neuwahlantrag versucht die postkommunistische SLD Wind in ihre Segel zu bekommen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2015)

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