Wer schoss Flug MH17 in der Ostukraine ab?

ITAR TASS DONETSK REGION UKRAINE JULY 18 2014 At the crash site of a Malaysia Airlines Boeying
ITAR TASS DONETSK REGION UKRAINE JULY 18 2014 At the crash site of a Malaysia Airlines Boeying(c) imago/ITAR-TASS (imago stock&people)
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Vor einem Jahr starben 298 Menschen, als eine Boeing abgeschossen wurde. Der Verdacht richtet sich gegen Separatisten. Noch immer liegt kein Untersuchungsbericht vor.

Den Haag. Es ist der 17. Juli 2014, 13 Uhr. Flug MH17 der Malaysia Airlines, gestartet in Amsterdam, befindet sich im Luftraum über der Ukraine. Ziel: Kuala Lumpur, Malaysia. Flughöhe: knapp 10.000 Meter. Die Flugleitung in Kiew gibt den Piloten Anweisung direkt in den russischen Luftraum zu fliegen, wo die Kollegen des russischen RND dann übernehmen werden. Um 13.19 Uhr bestätigten die Piloten des Flugs MH17 das. Dann wird es plötzlich mucksmäuschenstill. Als die ukrainische Flugleitung wieder Kontakt zur Boeing 777 der Malaysia Airlines sucht, bekommt sie keine Verbindung mehr. Flug MH17 mit 298 Menschen an Bord ist vom Radar verschwunden. Die Maschine ist über der Ostukraine abgestürzt.

Zunächst ist unklar, warum. Russland und die Ukraine decken einander schnell mit Schuldzuweisungen ein. Wüste Verschwörungstheorien machen die Runde. Die Ermittlungen gestalten sich schwierig. Tagelang bleibt Bergungskräften der Zugang zu dem umkämpften Trümmerfeld in Hrabove versperrt. Spuren werden verwischt.

Ein Jahr später liegt der Untersuchungsbericht noch immer nicht vor. Der niederländische Oberstaatsanwalt Fred Westerbeke vertröstete die Welt zuletzt auf Oktober. „Wir kommen stichhaltigen und überzeugenden Beweisen immer näher“, sagte er nur. Im September veröffentlichte seine internationalen Untersuchungskommission Joint Investigation Team (JIT) einen Zwischenbericht. Darin schlossen die Experten aus, dass technisches oder menschliches Versagen oder ein Terroranschlag die Maschine zum Absturz gebracht haben. Die Boeing sei von zahlreichen Objekten mit „großer Wucht“ durchbohrt worden und in der Luft zerborsten, hieß es.

Diese Darstellung wies schon damals darauf hin, dass die Boeing 777 von einer russischen Buk-Luftabwehrrakete getroffen worden war. Ein paar Monate später, im März, berichtete der niederländische TV-Sender ,RTL Nieuws‘, der Reporter Jeroen Akkermans und sein Kameramann Eddy van Exel hätten in der Nähe der ukrainischen Stadt Hrabove Teile einer russischen Buk-Rakete gefunden, mit der offenbar der Flug MH17 vom Himmel geholt worden war. Die Raketenfragmente seien im Londoner IHS Jane's Institute untersucht und identifiziert worden. Es handle sich um eine Buk-Rakete des Typs 9M317. Auch der Oberstaatsanwalt Fred Westerbeke sprach mittlerweile davon, dass die Boeing 777 „höchstwahrscheinlich“ von einer Rakete getroffen worden sei.

Doch wer hat das Geschoß abgefeuert? Waren es prorussischen Separatisten in der Ostukraine? Oder war es die ukrainische Armee? Das insinuierte zuletzt Russlands Präsident Putin. Ihm liege ein Bericht vor, wonach von ukrainisch kontrolliertem Gebiet aus mit einer Buk-Rakete auf die Boeing geschossen worden sei, sagte er zur deutschen Nachrichtenagentur DPA.

Am Mittwoch jedoch verbreitet der US-Fernsehsender CNN pünktlich zum Jahrestag unter Berufung auf einen niederländischen Ermittler eine andere Version: Die Buk-Rakete sei von einem Dorf abgeschossen worden, das prorussische Separatisten kontrolliert hätten. Möglicherweise haben der US-Geheimdienst oder die Nasa Satellitenbilder vom Abschuss der Boeing 777. Aber warum wurden sie dann noch nicht veröffentlicht?

Abgehörtes Telefonat

Ihren Weg in die Medien gefunden haben indes Telefongespräche zwischen prorussischen Separatisten, die der ukrainische Geheimdienst am 17. Juli vorigen Jahres abgehört haben will. Die Zeitung „de Telegraaf“ publizierte sie. „Ist es das, was ich denke, dass es ist?“, fragt angeblich der frühere russische General-Major Serge Petrowski. „Ja, ja, es ist eine Buk“, antwortet ein russischsprechender Mann. Um wen es sich dabei handelt, ist jedoch bis heute noch nicht bekannt.

Und noch ein anderer Hinweis tauchte gleich nach Unglück, wenn auch nur für kurze Zeit auf. „Wir haben soeben eine AN-26 abgeschossen“, schrieb der damalige selbst ernannte Verteidigungsminister der Donezker Volksrepublik, Igor Girkin alias „Strelkow“ („Schütze“), auf seiner Seite im russischen Netzwerk vk.com und stellte ein Video dazu, auf dem schwarzer Rauch zu sehen war. Wenig später verschwand der Eintrag im Internet. Hatten Strelkows Separatisten den Flug MH17 mit einer ukrainischen Antonow 26 verwechselt?

Parallel zu den noch laufenden Untersuchungen des JIT-Teams hat die niederländische Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die mutmaßlichen Täter eingeleitet. „Es wurden noch keine Verdächtigen genannt. Aber die Staatsanwaltschaft hat eine Gruppe von Personen im Visier,“ weiß der niederländische Völkerrechtler Gert-Jan Knoops. „Sie scheint bereits konkrete Hinweise auf die Täter zu haben.“ So lässt sich auch erklären, warum die Niederlande, Australien, Belgien, Malaysia und die Ukraine die Einsetzung eines UN-Tribunals forderten, vor dem die mutmaßlichen Täter angeklagt werden können. Aber Russland lehnt dies ab. Es will im UN-Sicherheitsrat ein Veto gegen ein solches Tribunal einlegen.

Fall für den Haager Strafgerichtshof?

„Falls es kein UN-Tribunal geben sollte, dann müssen die Täter hier in Den Haag vor Gericht gestellt werden“, meint der Völkerrechtler Knoops. Das könne vor dem Internationalen Strafgerichtshof ICC sein oder auch vor einem niederländischen Gericht, das eine internationale Strafkammer hat, meint Knoops.

Es gehe darum, die Personen ausfindig zu machen, die den Befehl zum Abschluss des Flugzeuges gaben und auch die Kämpfer, die das Buk-Raketensystem bedient haben. Das jedoch sei nicht einfach, ebenso wenig wie die Beweisführung, sagt Knoops.

Die Angehörigen der Opfer von Flug MH17 werden womöglich noch lang auf Gerechtigkeit warten müssen.

AUF EINEN BLICK

Igor Girkin alias Strelkow war zum Zeitpunkt des Absturzes des Flugs MH17 selbst ernannter Verteidigungsminister der Donezker Volksrepublik. Unmittelbar nach dem Unglück brüstete sich der Reserveoberst des russischen Geheimdiensts in einem Blog-Eintrag, eine ukrainische Antonow-Militärtransportmaschine über der Ukraine abgeschossene zu haben. Er ließ die Nachricht umgehend löschen. Das schürte den Verdacht, prorussischen Separatisten könnten das Boeing-Passagierflugzeug mit einer Antonow verwechselt und versehentlich abgeschossen haben. Angehörige von 18 getöteten Passagieren des Flugs MH 17 brachten diese Woche bei einem Gericht in Chicago eine Klage gegen Strelkow ein. Sie verlangen umgerechnet 826 Millionen Euro Schadenersatz.


Der offizielle Bericht
der Untersuchungskommission soll im Oktober veröffentlicht werden. Ein niederländischer Ermittler ließ gegenüber dem US-Fernsehsender CNN durchsickern, dass von einem Dorf aus, das prorussische Separatisten kontrolliert hätten, eine russische Buk-Rakete auf die Boeing 777 abgefeuert worden sei. Moskau weist diese Darstellung vehement zurück und lehnt auch die Einrichtung eines UN-Tribunals ab. An Bord der MH17, die sich am 17. Juli 2014 auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur befand, starben 298 Menschen. [ APA ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2015)

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