Flüchtlinge: Europa, der süßeste Traum

JORDAN REFUGEES EID
JORDAN REFUGEES EIDAPA/EPA/JAMAL NASRALLAH
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Mindestens 300.000 syrische Flüchtlinge sind in Ägypten. Die meisten wollen nach Europa, wenige werden es schaffen. Einige wollen bleiben, obwohl sie hier keine Zukunft haben.

Omar sitzt auf einer kleinen Mauer an der Uferpromenade im ägyptischen Alexandria und blickt in Richtung Norden über das Mittelmeer, dort, wo seine Träume verborgen liegen, an den Küsten Europas. Zweimal hat er es bereits versucht mit Hilfe von Schleppern, beide Male war er von der ägyptischen Polizei festgenommen worden.

„Mit anderen Flüchtlingen wurde ich nicht weit weg von Alexandria an die Küste gebracht. Dort wurden wir von den Schleppern mit Gürteln geschlagen, die uns dann in kleine Busse umluden“, beschreibt er seinen zweiten Versuch vor ein paar Wochen. Einige der Busse aber fuhren direkt zum nächsten Polizei-Checkpoint, die anderen zur geheimen Ablegestelle am Meer. Darin scheint wohl der Deal zwischen den Schmugglern und der Polizei zu liegen, die auch Erfolge melden möchte, aber gleichzeitig sich in anderen Fällen bewusst wegdreht. Omar war bei jener Gruppe, die der Polizei übergeben wurde. Nach zehn Tagen wurde er freigelassen.

Beim ersten Mal war er von den Schleppern mit anderen syrischen Flüchtlingen in einem Haus versteckt und bei einer Razzia der Polizei festgenommen worden. Nach sieben Tagen Haft durfte er wieder gehen.

Es gibt keinen anderen Weg. Abgeschreckt hat ihn das alles nicht. „Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, werde ich es wieder versuchen. Es gibt keinen anderen Weg als das Meer. Entweder sterbe ich oder finde auf der anderen Seite ein würdiges Leben“, schildert der 17-jährige Syrer seine Optionen. Im Oktober läuft sein syrischer Pass aus, den er nicht erneuern kann, weil er eigentlich ins Militär eingezogen werden sollte. „Bis Oktober werde ich in Europa sein“, redet er sich Mut zu.

Nicht alle 300.000 syrischen Flüchtlinge, die laut Schätzungen in Ägypten leben, wollen nach Europa. Nicht weit von dem Ort an der Promenade, wo Omar auf das Meer starrt, in einem unscheinbaren Wohnhaus einige Blocks vom Meer entfernt, arbeitet Omars Mutter, sie wäscht Geschirr bei Soryana, einer Selbsthilfegruppe syrischer Flüchtlinge. Es riecht appetitlich. Überall stehen Tabletts mit gefüllten Weinblättern oder Kibbeh, Bulgur-Hackfleisch-Klößchen. Die Frauen arbeiten in einer inoffiziellen Catering-Küche für syrische Speisen. Die Idee von Soryana ist es, den Flüchtlingen eine Perspektive in Ägypten zu bieten. Aber in einem Land, wo die meisten Bürger selbst um ihr tägliches Überleben kämpfen, ist es schwer, Fuß zu fassen.

Die Bruchlinie bei der Frage, ob man sein Glück übers Meer versuchen soll, verläuft oft zwischen den Generationen. „Ich bin hin- und hergerissen von den Fluchtplänen meines Sohnes. Ich habe Angst als Mutter, dass ihm dabei etwas zustößt. Aber ich kann es verstehen, hier kann er seine Ausbildung nicht weitermachen und hat keine Perspektive“, meint Omars Mutter Ikhlas. Auch Zoka, die Weinblätter rollt, diskutiert jeden Tag mit ihrem Sohn, der bereits alles für die Fahrt vorbereitet hat. „Er hat seinen Pass in eine Plastikfolie gegen des Wasser eingepackt und wartet auf seine Chance“, erzählt sie.

In Damaskus habe er Zahnmedizin studiert, hier stehe ihr Sohn vor dem Nichts. „Ich sage immer zu ihm, bitte warte, bis wir mit einem Visum nach Europa kommen, statt im Meer dein Leben zu riskieren.“ Aber sie weiß auch, dass das fast unmöglich ist.

Das einzige positive Beispiel, von dem sie alle reden, sind jene 42 Flüchtlinge, die im Rahmen des deutschen Resettlement-Programms am 16. Juni nach Deutschland ausgeflogen wurden, nachdem sie über ein halbes Jahr auf einer Polizeistation in Alexandria verbracht hatten. Aber alle hier wissen, dass das – sechsmonatiger Aufenthalt in der Polizeiwache inbegriffen – wie ein Sechser im Lotto ist. „In einem schwachen Moment sage ich mir dann: Hier sterben wir langsam, und im Meer sterben wir schnell. Ich würde das so niemals meinem Sohn sagen, aber manchmal denke ich mir, es wäre besser, schneller zu sterben“, gibt Zoka zu.

Refaa, eine der Gründerinnen von Soryana, versucht ihr Bestes, Projekte wie die Catering-Küche ins Leben zu rufen, um gerade den syrischen Flüchtlingsfrauen eine Perspektive in Ägypten zu bieten. „Wir sind eine große Familie bei Soryana, die versucht, sich über Wasser zu halten und die sich gegenseitig unterstützt“, erläutert sie. Mit den Einkünften aus dem Verkauf des Essens werden Miete, Küchengeräte und Zutaten bezahlt. Was übrig bleibt, wird unter den Frauen aufgeteilt.

„Das Leben in Ägypten ist schwer, auch für Ägypter, das tröstet uns ein wenig“, sagt sie. Die Flüchtlinge könnten nicht warten, bis die Ägypter ihre Probleme lösten, diese hätten doch selbst mehr als genug. Deswegen müssten die Syrer die Dinge in die eigene Hand nehmen.

Rollenspiel zur Fluchtvorbereitung. „Die Fahrt nach Europa kostet 2000 Dollar, damit kann man auch ein kleines Projekt in Ägypten beginnen, mit dem eine Familie ein Auskommen hat“, rechnet sie vor. Aber sie gibt zu: Selbst dann blieben weiter das Problem der Ausbildung der Kinder, das katastrophale ägyptische Gesundheitssystem, der ungeklärte rechtliche Status. „Für die meisten Syrer hier bleibt Europa der süßeste Traum“, folgert sie.

Einige Straßen weiter hat Soryana eine weitere Wohnung gemietet. Dort hat sich eine Gruppe syrischer Jugendlicher, meist junge Frauen, versammelt. Sie sollen in einem Rollenspiel die Risken einer Seefahrt kennenlernen. Sechzehn stehen auf einer Seite des Raumes und beginnen symbolisch ihre Überfahrt, indem sie ein paar Schritte gehen. Die ersten sechs scheiden aus, weil sie von Küstenwache oder Polizei entdeckt werden. Bei jeder Station müssen sie Fragen beantworten. Etwa, auf dem Meer, ob sie bereit wären, einen Freund über Bord zu werfen, weil das Boot zu sinken droht. Über die Hälfte ist da bereits draußen. In Europa angekommen, werden sie in Italien aufgegriffen und von den Behörden hin- und hergeschickt. Viele Fragen zielen darauf ab, ihnen klarzumachen, wie verwundbar sie sind. Am Ende schafft es nur ein einziges Mädchen bis in den vordersten Teil des Raumes – er steht für Deutschland.

„Wir wollen die Jungen dazu bringen, die Risken der Flucht zu bedenken, und dass sie in einem psychischen Zustand in Europa ankommen könnten, mit dem sie in ihrem Leben nicht mehr froh werden“, erklärt Yasmin, die Leiterin des Rollenspiels.

In der Sackgasse. Reem, die beim Rollenspiel im Meer ausschied, erzählt, dass sie in Damaskus einen Abschluss in Landwirtschaftstechnik und als English-Übersetzerin gemacht und sich für ein Stipendium in den USA beworben habe, als der Krieg losbrach. Also floh sie nach Ägypten, wo ihre Abschlüsse freilich nicht gelten.

„Ich habe oft darüber nachgedacht, auf ein Boot zu steigen, um mein Studium weiterführen zu können“, erzählt sie. Aber sie habe es sein lassen, weil ihre Mutter es nie überwinden würde, wenn ihr etwas zustoße. „Nach Syrien zu meiner Familie kann ich nicht zurück, und ich fürchte, bei einer Fahrt über das Meer das Herz meiner Mama zu brechen. Ich stecke fest.“

Lexikon

Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien im März 2011 sind laut UNO mehr als vier Millionen Syrer ins Ausland geflohen, weitere etwa 7,5 Millionen sind Binnenflüchtlinge. Mehr als 1,7 Millionen Syrer flohen in die Türkei, mehr als 1,1 Millionen in den Libanon, nach Ägypten angeblich etwa 300.000.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2015)

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