Proteste: Brasilianer proben den Aufstand

(c) APA/EPA/FERNANDO BIZERRA JR. (FERNANDO BIZERRA JR.)
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Hunderttausende sind gegen Präsidentin Rousseff auf die Straße gegangen. Angesichts eines drohenden Machtvakuums warnen selbst ihre Gegner vor einer Gefahr für die Demokratie.

Buenos Aires/Rio. Es waren wohl Hunderttausende: Durch São Paulo, Rio de Janeiro, Belo Horizonte, Brasilia und mehr als hundert andere Städte in Brasilien marschierten am Sonntag riesige Demonstrationszüge. Die Teilnehmer trugen die gelb-grünen Trikots der Nationalmannschaft und hielten Schilder empor, auf denen „Fora Dilma!“ gedruckt war – „Dilma raus!“ Andere Transparente forderten: „Amtsenthebung jetzt!“.

So drastisch diese Forderungen auch waren – im Regierungspalast Planalto dürfte die Bilanz dieses Sonntags positiver gewesen sein als bei den Organisatoren. Denn die Umzüge waren weit weniger massiv als Anfang März – damals waren zwei Millionen Menschen über dieselben Avenidas marschiert. Einen Monat darauf zogen noch 800.000 mit. Und jetzt höchstens die Hälfte davon.

Das mag erstaunen, denn Brasiliens wirtschaftliche Situation ist heute wesentlich dramatischer als im Frühjahr. Hunderttausende haben seither ihre Arbeit verloren, die Inflation ist um weitere zwei Prozentpunkte von sieben bis auf neun Prozent geklettert, die Rezession hat sich verschärft. Schätzungsweise um 1,8 Prozent wird Brasiliens Volkswirtschaft dieses Jahr schrumpfen, und auch für 2016 erwarten die meisten Ökonomen bestenfalls ein Nullwachstum.

„Miserable Leistung“

Die Unzufriedenheit, so ermitteln es die Umfrageinstitute, ist im Laufe des Jahres erheblich angewachsen. Laut Datafolha bewerteten 71 Prozent der Brasilianer Anfang August die Leistung von Präsidentin Dilma Rousseff als „schlecht“ oder „miserabel“.

Womöglich war für viele Menschen die gestiegene Unsicherheit genau der Grund, am Sonntag daheim zu bleiben. „Eine Amtsenthebung der Präsidentin wäre brandgefährlich für unsere Demokratie“, hatte eine Woche zuvor der Senatspräsident Renan Calheiros gesagt, bisher einer der internen Gegenspieler der Präsidentin. Doch nun, da sich zusätzlich zur Wirtschaftskrise und zur Wut über die Megakorruption bei Petrobras ein politisches Machtvakuum abzeichnete, präsentierte der Senatspräsident eine fraktionsübergreifende „Agenda Brasil“ aus 27 Punkten. „Wir müssen die Krisen trennen“, sagte Calheiros. „Die wirtschaftliche Lage wird nicht besser, wenn wir jeden Tag über eine Amtsenthebung der Präsidentin diskutieren.“

Genau darüber debattierte das Land zuletzt. Auf Initiative des Movimento Brasili Libre, das zu den Organisatoren des Sonntagsmarsches zählt, untersucht der Rechnungshof den Vorwurf, die Regierung habe im Wahljahr Haushaltslöcher mit Mitteln staatlicher Banken gestopft. Sollten die obersten Finanzprüfer fündig werden, wäre das ein Anlass. Aber würden wirklich zwei Drittel der Kongressabgeordneten für Rousseffs Absetzung votieren? Schon vor dem Sonntag war das fraglich. Nun dürfte die Wahrscheinlichkeit eines Amtsenthebungsverfahren im ersten Amtsjahr weiter gesunken sein.

Das ist wohl die wichtigste Erkenntnis dieses Sonntags: Die Demonstranten entstammen fast gänzlich der klassischen Mittelklasse, also jener Schicht, die das Gefühl hat, dass ihre ständig angewachsenen Steuerzahlungen von einem korrupten Staats- und Parteiapparat gestohlen werden und die Rousseff deshalb schon im Oktober die Zustimmung verweigert haben.

Schwer enttäuschte „Klasse C“

Aber jener Teil der Bevölkerung, der unter den wirtschaftlichen Problemen am meisten leidet, blieb offenbar daheim. „Klasse C“ nennen Soziologen jene Schicht, die unter der Herrschaft der Arbeiterpartei (PT) mit staatlichem Anschub aus der Armut in den Besitz von Bankkonten und Kreditkarten kam. Und die nun – meist hoch verschuldet und immer öfter ohne Job – schwer enttäuscht ist, dass die Präsidentin Dilma einen massiven Sparkurs fährt. Und dass sich sogar ihr Idol Lula hinter Dilma stellt.

Nachdem die obersten Korruptionsermittler vor zwei Wochen erklärten, kein Material gefunden zu haben, das Dilma Rousseff und Luiz Inácio Lula da Silva direkt belaste, sind die beiden zum Gegenangriff übergegangen. Das zweite Augustwochenende verbrachte Lula mit Dilma und der PT-Spitze in Klausur. Dabei legte Lula seiner Nachfolgerin dringend nahe, ihren Palast zu verlassen und den Menschen im Land zu erklären, warum die Budgetsanierung im geänderten weltwirtschaftlichen Kontext unumgänglich sei. Dass Lula sich tatsächlich bereit erklärt hat, sein verbliebenes politisches Prestige für eine Sparpolitik einzusetzen, zeigt, wie dramatisch selbst die PT die Lage derzeit einschätzt. Es geht offenbar um alles.

Auf einen Blick

Brasilien steckt in einer schweren Wirtschaftskrise. Hunderttausende haben in den vergangenen Monaten ihre Arbeit verloren, die Inflation ist auf neun Prozent gestiegen, die Volkswirtschaft schrumpft. Korruptionsvorwürfe gegen Präsidentin Dilma Rousseff haben die Lage zusätzlich verschärft. Immer wieder gibt es deshalb Massenproteste.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.08.2015)

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