Großbritannien: Corbyn und die Rückkehr zur sozialistischen Doktrin

Labour Party leadership candidate Jeremy Corbyn at an election campaigning event at Ealing in west London.
Labour Party leadership candidate Jeremy Corbyn at an election campaigning event at Ealing in west London.REUTERS
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Warum Labour den Linken Jeremy Corbyn zu ihrem Chef wählen wird und die Konservativen sich nicht zu früh freuen sollten.

London. Der Komiker hatte die Lacher auf seiner Seite: „Mein Name ist Matt Forde. Ich arbeitete für die Labour Party, aber jetzt bin ich Kabarettist – und werde ernster genommen als früher.“ Doch er scherzte nicht. Mit der sich abzeichnenden Wahl des Altlinken Jeremy Corbyn zu ihrem neuen Parteivorsitzenden macht sich die ehrwürdige britische Arbeiterpartei seit Wochen zum Gespött der Nation. Corbyn will nicht weniger, als die politische Uhr zurückdrehen. Aber seine Gegner unterschätzen ihn auf eigene Gefahr.

Die Verlockung dazu ist groß. Mit grauem Bart, Umhängetasche und einer Brusttasche voller Kugelschreiber sieht der 66-jährige Corbyn nicht nur aus wie die Karikatur eines klassischen Linken. Auch seine Positionen sind weit von dem entfernt, wohin sich New Labour unter Tony Blair und Gordon Brown entwickelt hat. Statt Aussöhnung von Kapitalismus und Sozialismus will Corbyn, der seit 1983 den Londoner Bezirk Islington im Parlament vertritt, aber nie eine führende Position bekleidet hat, eine Rückkehr zur sozialistischen Doktrin.

So fordert er eine Verstaatlichung der Bahn und der Energieversorger, möglicherweise auch der Banken. Eine öffentliche Investitionsbank soll die Konjunktur ankurbeln, der Staat soll neue Häuser bauen und die Mieten regulieren („Der Markt ist dazu offensichtlich nicht in der Lage“, sagt Corbyn).

Der Spitzensteuersatz soll erhöht werden (Corbyn: „Ich kenne viele Reiche, die bereit sind, mehr zum Gemeinwesen beizutragen“), dafür sollen Ausbildung und Studium kostenlos sein. Die britischen Atom-U-Boote will Corbyn verschrotten, aus der Nato will er austreten, und zur EU steht er betont skeptisch („brutales Vorgehen gegen Griechenland“). Er ist antiamerikanisch, pro Dritte Welt (Chávez, Castro), verurteilt Israels „Okkupationspolitik“ und fordert den Dialog mit Hamas und Hisbollah. Für den Irak-Krieg will er sich entschuldigen und Blair vor ein Kriegsverbrechertribunal stellen lassen.

„Einziger, der an etwas glaubt“

Mit jenen Positionen führt Corbyn seine Partei in die 1980er zurück. Beobachter und die regierenden Konservativen stimmen überein, dass Labour damit auf Dauer für die Mehrheit der Briten unwählbar wird. Kein Tag vergeht, an dem nicht Parteigranden der Blair-Ära vor der Wahl Corbyns warnen: „Wir stehen vor der Auslöschung“, schrieb Blair in der Vorwoche; vor einem „konservativen Ein-Parteien-Staat“ warnte Ex-Außenminister David Miliband; Gordon Brown erinnerte seine Partei daran, dass „wir politische Macht brauchen, um etwas verändern zu können.“

Dennoch fliegen Corbyn die Herzen seiner Partei zu. Alle Umfragen sehen ihn klar vorn. Der Buchmacher Paddy Power erklärte ihn diese Woche bereits zum Sieger. Die Veranstaltungen Corbyns sind überfüllt. Hunderttausende haben sich für die Wahl neu registrieren lassen. Die führenden Gewerkschaften unterstützen ihn. Corbyn hat kein Charisma, aber er ist ehrlich, authentisch und kein gestylter, austauschbarer New-Labour-Funktionär. „Der einzige Kandidat, der an etwas glaubt“, erkennt selbst der alte „Sozen-Hasser“ Rupert Murdoch an. Neben älteren Semestern findet Corbyn besonderen Anklang unter der Jugend. Statt Designeranzügen trägt er offene Hemden und Rippunterleibchen wie ihre Großväter.

Es ist ein ähnliches Phänomen wie der Wirbelwind, den die Scottish National Party (SNP) vor einem Jahr in der Unabhängigkeitskampagne entfesselt hat und der bis heute anhält. Die Zustimmung zu Corbyn kommt nicht nur aus derselben Abneigung zum traditionellen Politikbetrieb, aus dem sich auch die SNP und die rechtspopulistische UKIP nähren. Sie zeigt auch, dass er offenbar die Themen anspricht, die den Menschen unter den Nägeln brennen. Die Revolution ist ausgeblieben, aber die Wähler haben nicht vergessen, wer die Kosten der Bankenrettung zu tragen hat.

„Wir sind in der Todeszone“

Der frühere Labour-Chef Ed Miliband zog daraus den Schluss, seine Partei ein wenig nach links zu rücken. Er wollte zugleich gegen das Sparprogramm, aber für die Sanierung des Staatshaushalts sein. Neue Untersuchungen zeigen, dass die Wähler aber keine „Tory Lite“-Variante wollen. „Wir sind in der Todeszone“, sagt der Autor der Studie, Jon Cruddas, über seine Partei. Bedenkt man, dass Corbyn dieselben Positionen vertritt, mit denen die Partei schon vor 40 Jahren scheiterte, muss man sich fragen, wer die wahre konservative Partei ist.

Die Konservativen mit großem K sollten sich aber nicht zu früh freuen. Phänomene wie Corbyn, UKIP und SNP zeigen eine Unzufriedenheit, auf die auch Premier David Cameron keine Antworten weiß. Seine Partei ging nach dem Wahlsieg Blairs 1997 durch eine ähnliche Krise wie heute Labour. Es dauerte 13 Jahre, bis sie die Mitte zurückerobern konnte. Heute ist die Frage, ob dieses Zentrum überhaupt noch existiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.08.2015)

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