Warum die EU-Oststaaten Migranten ablehnen

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Von Estland bis Ungarn gibt es massiven Widerstand gegen die Aufnahme von Asylwerbern. Unter den Bürgern geht die Angst um. Das hat auch mit dem langen Schatten des Kommunismus zu tun.

Asylwerber des Volks Piréz sind in Ungarn nicht willkommen. Eine Mehrheit spricht sich regelmäßig gegen ihre Aufnahme aus. Einen Aufschrei gibt es nicht. Zum einen, weil die Ablehnung von Menschen arabischer Herkunft noch stärker ausfällt, vor allem aber, weil das Volk der Piréz nicht existiert. Das Umfrageinstitut Tárki hat es erfunden und schmuggelt es seither in seine Befragungen, um die Stimmung gegen Migranten auszuloten.

Wie ein Gespenst geht der Islam durch das Baltikum und Mittelosteuropa. Von der estnischen Ostseeküste bis hinunter in die pannonische Tiefebene liegt der Anteil der Muslime im Promillebereich. Genauso wenig münden in diese Länder große Flüchtlingsströme – vom Ausreißer Ungarn abgesehen, über dessen Grenzen heuer bereits 100.000 Flüchtlinge in die EU gedrängt sind. In den drei baltischen Staaten gab es dagegen 140 Asylwerber im ersten Quartal des Jahres, in der Slowakei 45, in Tschechien 355 und in Polen mit 38 Millionen Einwohnern 1440. Nach Österreich kamen im selben Zeitraum fünfmal so viele Asylwerber wie in diese sechs Länder zusammen.

„Es klingt paradox. In den ostmitteleuropäischen Staaten ist die Anti-Einwanderungs-Stimmung den Umfragen zufolge größer, obwohl es dort weniger Migranten gibt“, sagt Péter Krekó, Direktor des Political Capital Institute in Budapest. In Tschechien und der Slowakei sprachen sich zuletzt um die 70 Prozent der Befragten gegen die Aufnahme von Syrern ab. In Polen glauben 58 Prozent, Migranten aus dem Nahen Osten seien eine Terrorgefahr. Und diese ablehnende Haltung ist auch Politik. Wenn nach der Tragödie auf der A4 Österreichs Staatsspitze nun mehr Solidarität der EU verlangt, richtet sich der Blick vor allem gen Osten. Im Konflikt um eine verpflichtende Quote zur Aufteilung der Flüchtlinge verläuft die Hauptfront just entlang des abgerissenen Eisernen Vorhangs, in dessen Osten der Quotenzwang vehement abgelehnt wird. Warum eigentlich?


„Keine Rassisten“. Nun sind giftige Zitate über Flüchtlinge, Zuwanderung und Islam weder auf die neuen EU-Staaten in Mittelosteuropa und dem Baltikum beschränkt, noch bilden die Länder einen monolithischen Block. Aber es verbindet sie der Schatten der Vergangenheit. In den kommunistischen Plattenbauten gab es, anders als in den westeuropäischen Großstädten, so gut wie keine Migranten aus anderen Kulturen.

Zugespitzt: Den Bildern von köpfenden Mörderbanden des Islamischen Staats steht keine Alltagserfahrung im Zusammenleben mit Muslimen gegenüber. Ungarns Regierungssprecher Zoltán Kovács sagt: „Die Menschen sind doch nicht Rassisten. Aber wir hatten hier jahrzehntelang Kommunismus. Es gibt keine Alltagserfahrung wie in Westeuropa mit dem Multikulti-Ansatz, der ohnehin gescheitert ist.“

Es ist eine Angst vor dem Unbekannten, die vom Boulevard noch geschürt wird, der etwa in Tschechien mit Schlagzeilen wie „Apokalypse“ aufwartet, aber auch von Politikern, die dieses neue Thema quer durch die baltischen Ex-Sowjetrepubliken und vormaligen Warschauer-Pakt-Staaten ausschlachten. Wie die Einwanderung selbst fehlt auch die gesellschaftliche Debatte über deren Vor- und Nachteile. „Die Bevölkerung ist ganz unerfahren im Umgang mit dem Thema und auch deshalb so verunsichert“, sagt die ungarische Politologin Melani Barlai. Und so haben Agitatoren leichteres Spiel, muslimische Flüchtlinge ins Terroreck zu rücken oder als „aggressiv“ zu geißeln. „Auch in meinem Freundeskreis dominiert Angst vor gewalttätigen Migranten die Debatte“, sagt Barlai. Hinzu komme, dass die Flüchtlinge mitunter rein äußerlich den Roma ähneln, gegen die es etwa in Ungarn und der Slowakei einen regelrechten Hass gibt.

Auch die Flüchtlingskrise ist dem Primat der Innenpolitik unterworfen: Eine verlorene Nachwahl und die grassierende Korruption kratzten an der hohen Popularität Orbáns, als der Premier sich in einer „Nationalen Konsultation“ bei seinem Volk schriftlich erkundigte, unter anderem danach, ob die von Brüssel schlecht gemanagte Einwanderung mit dem Erstarken des Terrorismus zusammenhänge. Dann kamen die in ungarischer Sprache gehaltenen Plakate: „Wenn du nach Ungarn kommst, musst du unsere Kultur respektieren.“ Und nun ziehen die Ungarn einen Grenzzaun hoch, in dem Land, in dem vor 26 Jahren der Eiserne Vorhang als erstes durchschnitten wurde. Estland erwägt mittlerweile ebenfalls, sich an seiner Ostgrenze einzuzäunen.


Die nationale Karte. Auch der slowakische Premier Robert Fico stürzt sich auf das Flüchtlingsthema. Auch er hat schon bessere Zeiten erlebt seit seiner Pleite bei der Präsidentenwahl im Vorjahr. Nun warnt seine Regierung vor Terroristen unter Flüchtlingen – und will nur 200 Christen aufnehmen. Man habe eben keine Moschee. Der Präsident des nördlichen Nachbarlandes, Miloš Zeman, sagt: „Wir wollen keinen Islam in der Tschechischen Republik“, während Vizeregierungschef Andrej Babiš einen Nato-Einsatz an der EU-Außengrenze verlangt.

Die Angst vor Flüchtlingen verwebt sich mit einem von Jahrhunderten der Fremdherrschaft geprägten Patriotismus, vor allem im vielfach geteilten Polen und in Ungarn: „Mit nationalkonservativen Aufrufen lassen sich in Ungarn die Massen mobilisieren“, sagt Politologin Barlai. Gegenargumente in der Flüchtlingsdebatte punkten mehrheitlich nicht, weder humanitäre, die Erinnerung an die eigene politische Verfolgung, als Westeuropa 1956 für Ungarn und 1968 für Tschechen seine Tore öffnete, noch wirtschaftliche, wonach die meisten dieser Länder wegen Auswanderung und Überalterung auf Immigration angewiesen sein werden. So fehlten in Ungarn schon jetzt Ärzte, sagt Experte Krekó.

Die Angst vor der Ausbeutung der schwachen Sozialsysteme kommt hinzu. „Eines der Hauptargumente in Polen ist, dass das Land nicht reich genug ist, um anderen zu helfen“, sagt Weronika Rokicka von Amnesty International. Zugleich machen polnische Arbeitsmigranten selbst Erfahrung mit Ausgrenzung, etwa in Großbritannien.

Osteuropäer würden sich als EU-Bürger zweiter Klasse fühlen, sagt Experte Krekó. „Und nun haben sie den Eindruck, dass ihre Länder Ziel von Migranten sind und diesmal sie sagen können: Ihr seid nicht willkommen.“ Wobei die Staaten tatsächlich nur Durchzugsgebiet sind. Auch das geht in der Debatte unter.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2015)

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