"Ein Vorbild für ganz Europa"

(c) Die Presse/Stanislav Jenis
  • Drucken

Am Sonntag kamen etwa 7000 Flüchtlinge über die Grenze. Weniger als am Samstag, aber der Strom hielt an. In Wien will kaum jemand bleiben.

Wien. Der Flüchtlingsstrom nach Österreich hat am Sonntag deutlich nachgelassen, er reißt aber nicht ab. Während am Samstag laut ÖBB etwa 11.000 Flüchtlinge mit Bussen und Sonderzügen nach Wien kamen, um weiter nach Deutschland zu fahren (am Samstag suchten in Österreich nur etwa 20 Flüchtlinge um Asyl an, am Sonntag 30), erreichten bis zum Sonntagabend rund 5900 weitere Flüchtlingen den Wiener Westbahnhof, wobei nur mehr ein Sonderzug ausständig war – womit am Sonntag mit etwa 6500 bis 7000 Flüchtlingen gerechnet wurden. Zwischen 200 und 800 Flüchtlinge waren tagsüber ständig auf den Bahnsteigen – allerdings stellten nur etwa 30 von den etwa 7000 Neuankömmlingen einen Asylantrag in Österreich.

Wer Wien erreichte, setzte seine Reise umgehend in Richtung Deutschland fort – ebenso wie jene Flüchtlinge, die zuvor in Wien übernachtet hatten und von Rettungsorganisationen bzw. einer Vielzahl von Freiwilligen betreut wurden. Rund 800 Menschen mussten auf dem Bahnhof übernachten, für 450 wurde ein Notquartier in einem leer stehenden Bürogebäude geschaffen, 600 Schlafplätze standen zusätzlich in einer dafür abgestellten Zuggarnitur auf Gleis eins bereit. Außerdem: „Einige Wiener sind gekommen und haben Flüchtlinge mitgenommen, damit diese bei ihnen übernachten können. Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung ist großartig“, erklärte ein Rot-Kreuz-Mitarbeiter der „Presse“.

Flüchtlinge hatten Angst vor Aufnahmelager

Bei einem Lokalaugenschein am Sonntagmorgen erweckte der Westbahnhof den Eindruck eines gewöhnlichen Reisetags. Außergewöhnlich war nur, dass die Lautsprecheransagen für Züge nach Deutschland auch in Arabisch und Englisch erfolgten. Wobei nicht wenige Flüchtlinge, die in der Nacht angekommen sind, sich geweigert haben, ihren Zug zu verlassen, bis der nächste in Richtung München bereitgestanden ist – aus Angst, dass sie (wie in Ungarn) dann in ein Flüchtlingslager gebracht werden. „Einer ist von Ungarn sogar zu Fuß bis zum Westbahnhof gegangen“, erzählt Michael Dorfstätter vom Roten Kreuz Mödling. „Er wollte an der Grenze nicht in einen Bus einsteigen – aus Angst, dass der Bus ihn in ein Flüchtlingslager bringen wird.“ Ähnliches war auf den Bahnsteigen zu beobachten. Flüchtlinge erkundigten sich misstrauisch mehrfach bei Caritas-Dolmetscher Ramzi Ben Nasra, weil der empfohlene Zug nach Deutschland mit Innsbruck angeschrieben war.

Die Caritas, die viele der Hilfsaktivitäten koordiniert, hat sich am Sonntag auf dem Westbahnhof überwältigt von der Hilfsbereitschaft der Menschen gezeigt. „Es ist ein Ort der Menschlichkeit geworden“, stellte Generalsekretär Klaus Schwertner bei einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz im dortigen Spendenlager zwischen Windeln, Obst, Babynahrung und Kleidung fest. Die Lager seien voll. Seit Samstagfrüh seien mehr als 10.000 Menschen mit Essen und Hygieneartikeln versorgt worden. „Der Westbahnhof könnte ein Vorbild für ganz Europa werden“, sagte Schwertner. „Hier zeigt sich: Gemeinsam schaffen wir das, gemeinsam können wir Flüchtlinge wie Menschen behandeln.“

"Will Europa Kontinent des Todes sein?"

Ähnliche Worte fand Caritas-Chef Michael Landau: „Bei allem, was man kritisch anmerken kann zur Situation unseres Landes: Auch das ist Österreich“, lobte er den „guten Grundwasserspiegel der Solidarität in diesem Land“, die „lebendige Zivilgesellschaft“ und alle beteiligten Organisationen und Unternehmen. Allein, wie es ausgehen wird, ist noch ungewiss.“ Europa stehe am Scheideweg, hat der Caritas-Präsident erklärt. Und das in Form einer drastischen Frage formuliert: „Will Europa ein Kontinent sein, der Solidarität lebt – oder ein Kontinent des Todes?“ Es brauche mehr Hilfe in den Herkunftsregionen – etwa für das World Food Program, das zuletzt stark gekürzt wurde –, ein „besseres, solidarisches“ System als die „gescheiterte“ Dublin-Regelung, es brauche Quoten oder einen Solidaritätsfonds und vergleichbare Standards bei den Asylverfahren in den betreffenden Ländern.

Die Caritas appellierte auch an Bund, Länder und Gemeinden in Österreich: Obwohl derzeit die meisten Menschen weiterreisen, benötige man in den kommenden Wochen und Monaten mehr Quartiere für Flüchtlinge. Die Caritas werde 1200 Plätze schaffen. Man dürfe auch nicht die Situation in der Erstaufnahmestelle Traiskirchen vergessen. „Es hat dort bis zuletzt 200 bis 300 Obdachlose gegeben“, sagte Generalsekretär Schwertner.

Chaos bei Aktivisten-Autokonvoi

Chaotisch verlief am Sonntag ein Hilfskonvoi von Privatpersonen, der um kurz nach elf Uhr mit rund 120 Autos vom Ernst-Happel-Stadion aus aufbrach. Das Ziel: Ungarn, um dort Flüchtlinge abzuholen und mit dem Auto nach Wien zu bringen. Vor der Abfahrt wurde den Teilnehmern noch ein Informationsblatt mit Telefonnummern der österreichischen Botschaft sowie Rechtsanwälten überreicht, falls es in Ungarn zu Problemen mit der Polizei kommen sollte. An der Aktion nahmen auch zahlreiche Personen aus Deutschland teil.

Als der Konvoi gegen 12.30 Uhr die österreichisch-ungarische Grenze in Nickelsdorf erreichte, machte sich bei den Aktivisten, die von einem immensen internationalen Medienaufgebot begleitet wurden, Ratlosigkeit breit. Denn Flüchtlinge, denen geholfen werden konnte, gab es entlang der A4 nicht. Nach langer Beratung wurde beschlossen, die Raststätte mit einem Protest-Hupkonzert zu verlassen und den Bahnhof in Hegyeshalom anzusteuern. Aber auch dort stieß man nicht auf Flüchtlinge.

Flüchtlinge wollten nicht mit Konvoi fahren

Nach weiteren Diskussionen einigte man sich darauf, geschlossen nach Györ zu fahren, weil dort angeblich 200 bis 300 Flüchtlinge auf ihre Ausreise warten würden. Zwar wurden am dortigen Bahnhof tatsächlich einige Dutzend Flüchtlinge angetroffen, allerdings machten diese keinerlei Anstalten, mit den Aktivisten nach Österreich zu fahren. Einige hielten sie sogar für organisierte Schlepper und fragten, wie viel sie für eine Fahrt nach Wien verlangen würden.

Nur den wenigsten Fahrern des Konvois gelang es, Flüchtlinge davon zu überzeugen, in ihre Autos zu steigen und nach Wien zu fahren. Die verbliebenen wurden mit mitgebrachten Hilfsgütern wie Kleidung, Essen und Trinken sowie Spielsachen versorgt. Gegen 16.30 Uhr stiegen schließlich die meisten Flüchtlinge in einen Zug nach München, während sich die restlichen Fahrer auf den Weg nach Budapest machten, um dort weitere Flüchtlinge abzuholen und nach Österreich zu bringen.

Beamter im Gerangel mit Aktivisten

Der Stress der vergangenen Tage ist angesichts der Flüchtlingssituation an allen Beteiligten offenbar nicht spurlos vorübergegangen. Im Internet herrschte am Sonntag Aufregung über ein Video, das einen Mitarbeiter von Innenministerin Johanna Mikl-Leitner bei einem Gerangel mit Aktivistinnen zeigt. Eine Aktivisten stürzte zu Boden. Sie seien aggressiv gewesen, rechtfertigte sich der Mitarbeiter, entschuldigte sich aber auch für sein Verhalten. Der Vorfall ereignete sich am Samstagnachmittag bei Mikl-Leitners Besuch am Grenzübergang Nickelsdorf. Als diese zu Fuß beim Rotkreuz-Zelt unterwegs war, brüllten zwei Aktivistinnen: „Frau Minister, was machen Sie hier? Können Sie ruhig schlafen?“ Es kam dann zu einem Gerangel, Mitarbeiter des Roten Kreuzes griffen schlichtend ein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.09.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.