Die türkische Nacht des Schreckens

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Sept 8 2015 Ankara Turkey Sep 8 2015 Horsemen who participated in the rally Thousands of p(c) imago/ZUMA Press (imago stock&people)
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In hunderten türkischen Orten griffen in der Nacht zum Mittwoch aufgebrachte Nationalisten kurdische Bürger und Geschäfte an, verletzten Passanten und riefen zu weiterer Gewalt auf.

Istanbul. Noch Dienstagmittag schien die Welt in Ordnung zu sein in Kirsehir, einer verschlafenen Kleinstadt in der Mitte der Türkei. In der Schulstraße betrachteten Mütter die bunten Kinderrucksäcke, die von der Rosen-Buchhandlung zum Schulbeginn angeboten wurden. Aus einer Imbissbude duftete es nach Fleischbällchen, die Konditorei daneben stellte ihre Kuchen aus. Doch kurz vor Sonnenuntergang brach in Kirsehir wie in hunderten Orten der Türkei das dünne Eis ein, auf dem der türkische Gesellschaftsfrieden gebaut war. Jetzt ist nichts mehr in Ordnung in Kirsehir und der Türkei. Und die Rosen-Buchhandlung gibt es nicht mehr.

Um 19 Uhr beginnt zeitgleich in allen 81Provinzen der Türkei die Nacht des Schreckens. Für diese Uhrzeit hat der Jugendverband der Nationalistenpartei MHP zu Protesten gegen die Anschläge der kurdischen Rebellenorganisation PKK aufgerufen, denen in den letzten drei Tagen mindestens 30 Polizisten und Soldaten zum Opfer gefallen sind.

Schläge mit Knüppeln und Hacken

In Kirsehir beginnen die Proteste mit einem Sturm von 4000 Nationalisten auf das Kreisbüro der Kurdenpartei HDP, die mit der PKK liiert ist. „Nieder mit der PKK!“, skandieren die fahnenschwenkenden Demonstranten, begleitet von einem hupenden Autokonvoi. Rasch hat die Menge das Gebäude gestürmt, das Schild mit dem Parteiemblem zertrümmert und eine riesige türkische Fahne aufgehängt – zu rasch, um den aufgestauten Hass der Randalierer zu befriedigen. Einen Augenblick hält der Mob inne – dann dreht er sich um und greift die Geschäfte auf der anderen Straßenseite an.

„Das sind kurdische Geschäfte!“, ruft jemand, und da gibt es kein Halten mehr. Klirrend zerbersten die Scheiben der Rosen-Buchhandlung, die Kinderrucksäcke fliegen auf die Straße – und dann werden Brandsätze in das Buchgeschäft geworfen, in dem Buchhändler Sait Akilli mit zwei Mitarbeitern und seinem Onkel ausharrt. Von den auflodernden Flammen hinausgezwungen, werden die Männer vom tobenden Mob erwartet, der mit Knüppeln und Hacken auf sie einschlägt.

Mit gebrochener Nase und einer Platzwunde am Kopf kann Akilli entkommen, seinem Onkel werden die Rippen gebrochen. Die Opfer schleppen sich zum Krankenhaus, während die zweistöckige Buchhandlung ausbrennt. Der Mob wendet sich inzwischen den nächsten Geschäften zu und brennt Konditorei, Imbissstube und Boutique nieder, bevor er die Fahnen einrollt und sich zufrieden trollt.

Eine typische türkische Kleinstadt bleibt Kirsehir damit auch weiterhin, denn überall in der Türkei spielen sich in der Nacht solche und ähnliche Szenen ab. „Wohl dem, der wahrer Türke ist!“ und „Rache, Rache!“ skandieren hunderttausende nationalistische Demonstranten bei Fackelzügen, Protestmärschen und Autokonvois in Dutzenden türkischen Städten. In mehr als 400 Orten werden die Parteibüros der HDP angegriffen, geplündert oder niedergebrannt – sogar in Ankara, wo vier Verkehrspolizisten zusehen, wie der Mob den Sitz der drittstärksten Partei im türkischen Parlament anzündet.

Tausende grölende Jugendliche

Rassistische Angriffe eskalieren schon seit Tagen in der Türkei, seit die PKK am Sonntag und Dienstag mehrere Wagen voller türkischer Polizisten und Soldaten in die Luft gejagt hat. In Istanbul wird ein junger Kurde von türkischen Nationalisten erstochen, weil er vor ihrem Kaffeehaus auf Kurdisch telefoniert hat. In der Ägäis-Provinz Mugla wird ein Kurde von einem Lynchmob gezwungen, die Atatürk-Büste auf dem Marktplatz zu küssen. In dieser Nacht des Terrors marschieren nun tausende fahnenschwingende Jugendliche mit Fackeln durch Istanbul und grölen: „Uns reicht kein Militärangriff (auf die PKK, Anm.),wir fordern ein Massaker!“ Zum Ziel wird auch wieder einmal die Presse, oder zumindest das, was in der Türkei noch davon übrig ist. Die regierungskritische Zeitung „Hürriyet“ wird von aufgebrachten Anhängern der Regierungspartei AKP belagert, die dem Blatt vorwerfen, der HDP günstig gesinnt zu sein. In der regierungsnahen „Star“ arbeitet ein Kolumnist inzwischen an einer Todesdrohung gegen den „Hürriyet“-Kolumnisten Ahmet Hakan, die am Morgen auch prompt im Blatt steht, garniert mit der Bemerkung: „Wir können dich zerquetschen wie eine Fliege.“

Noch vor wenigen Monaten herrschte in der Türkei die Hoffnung auf ein Ende des Kurdenkonflikts, doch nun ist davon nichts mehr übrig. Einen Großteil der Verantwortung dafür sehen viele Türken bei Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der vor den Parlamentswahlen am 1.November den Druck auf die HDP erhöhen will, um damit seiner eigenen Partei AKP mehr Wähler zuzutreiben. Sollte die HDP unter die Zehnprozenthürde fallen, würde die Zahl der AKP-Sitze im Parlament erheblich steigen. Erdogan bezeichnet die HDP regelmäßig als verlängerten Arm der PKK-Rebellen, regierungsnahe Medien stellen HDP-Chef Selahattin Demirtaş als getarnten PKK-Kommandeur hin, der Befehle für Angriffe auf Soldaten gebe.

PKK-Hardliner rufen zur Vergeltung auf

Doch alles auf Erdogan zu schieben, wäre zu einfach. Die PKK-Hardliner haben mit dem Neubeginn ihrer Angriffe im Juli die Spirale der Gewalt überhaupt erst in Gang gesetzt, und ignorieren den Ruf der legalen Kurdenpartei HDP nach einem neuen Waffenstillstand. Mittwochmorgen schaltet auch Demirtaş einen Gang höher und ruft seine Anhänger zur Gegengewalt auf. Rechtsnationalisten würden ab jetzt ihr blaues Wunder erleben, kündigt er an: „Ihre Mütter werden es bereuen, sie zur Welt gebracht zu haben.“

Immer schneller dreht sich der Strudel, in dem die Türkei unterzugehen droht. In der Millionenstadt Diyarbakir stranden am Morgen tausende Passagiere, weil alle Reisebusverbindungen in den Westen des Landes gekappt sind. Da Fahrzeuge mit den Kennzeichen der kurdischen Provinzen mit Steinen beworfen werden, wenn sie im Westen der Türkei auftauchen, stellten die Busfirmen den Verkehr vorläufig ein. Aus einigen westtürkischen Ortschaften fliehen die kurdischen Arbeiter. „Dieser Weg führt zur Hölle“, schreibt Kommentator Hasan Cemal. „Um Gottes Willen, wann kommen wir zur Besinnung?“ Eine Antwort darauf hat niemand.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2015)

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