Flüchtlingskrise: Deutschland macht Grenzen dicht

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Die Lage eskaliert. Berlin führt Kontrollen an seinen südlichen Grenzen wieder ein und stoppt den Zugverkehr. Tausende Flüchtlinge sitzen in Österreich fest. Krisensitzung der Regierung in Wien.

Nach einem neuen Rekordansturm von Flüchtlingen an diesem Wochenende steigt Deutschland auf die Bremse: Die Regierung in Berlin kündigte am Sonntag an, Kontrollen an der Grenze zu Österreich wieder einzuführen und damit das Schengen-Abkommen vorübergehend außer Kraft zu setzen. „Die Presse“ hatte schon am Sonntagvormittag von den Plänen berichtet. Gleichzeitig teilte die Deutsche Bahn mit, ab 17 Uhr Sonntagabend keine Züge aus Österreich mehr zu übernehmen. Zu diesem Zeitpunkt waren 1800 Flüchtlinge in Österreich auf dem Weg nach Salzburg; 1500 wurden von Nickelsdorf kommend in Wien erwartet. ÖBB-Chef Christian Kern erfuhr von der Einstellung des Zugverkehrs erst kurz nach 16 Uhr vom Chef der Deutschen Bahn, Rüdiger Grube – nicht etwa von der österreichischen Regierung.

Die Regierung in Wien hatte der deutsche Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, vorab über die Pläne informiert. In Wien sorgte das für einen mittleren Schock. Der Ansturm aus Ungarn hatte am Wochenende neue Rekordzahlen erreicht, allein für Sonntag waren 10.000 Flüchtlinge am Grenzübergang im burgenländischen Nickelsdorf erwartet worden. Am Nachmittag kam das Kabinett in Wien zu einer Krisensitzung zusammen. Dem Vernehmen nach plädierten Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und Außenminister Sebastian Kurz (beide ÖVP) dafür, Berlin zu folgen und an der Grenze zu Ungarn ebenfalls Kontrollen einzuführen. Kanzler Werner Faymann und Kanzleramtsminister Josef Ostermayer (beide SPÖ) lehnten einen solchen Schritt mit Verweis auf humanitäre Erwägungen zunächst ab.

Die vorübergehenden Grenzkontrollen sind nur eine Maßnahme, mit der Berlin des Ansturms Herr zu werden hoffte. Flüchtlinge, die vom Westbalkan stammen, sollen künftig rascher abgeschoben werden. In Berlin hieß es, wichtig sei ein „deutliches Signal“ an jene Flüchtlinge in der Türkei und in den Flüchtlingslagern im Nahen Osten, dass sich das Zeitfenster für eine unkontrollierte Einreise nach Deutschland schließe.

„Totalversagen der EU“

Als Erster hatte der deutsche Verkehrsminister, Alexander Dobrindt, öffentlich die Kurskorrektur in der Flüchtlingspolitik angedeutet. „Die Grenzen der Belastbarkeit sind erreicht“, hat er am Sonntag in Berlin erklärt. „Jetzt sind wirksame Maßnahmen nötig, um den Zustrom zu stoppen.“ Dazu zähle auch eine wirksame Kontrolle der Grenzen, „weil auch wegen des Totalversagens der EU der Schutz der EU-Außengrenzen nicht mehr funktioniert“.

Die Regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel vollführt diese Kehrtwendung auch deshalb, weil die Kritik an der Flüchtlingspolitik in den Bundesländern immer lauter geworden ist. Noch am Wochenende hat sie ihre Entscheidung, Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen, verteidigt. Ein – namentlich nicht genannter – Innenminister eines Bundeslandes warf Merkel in einem Zeitungsbericht vor, die Länder mit der großzügigen Einreiseerlaubnis überrumpelt zu haben. Die schärfste Kritik kam vom bayrischen Ministerpräsidenten, Horst Seehofer, der sagte: „Das war ein Fehler, der uns noch lang beschäftigen wird. Ich sehe keine Möglichkeit, den Stöpsel wieder auf die Flasche zu kriegen.“

Bayern ist das am stärksten betroffene deutsche Bundesland, fast alle über die Balkanroute kommenden Flüchtlinge landen via Ungarn und Österreich zunächst in München. Dort sind allein am Samstag über 12.000 Menschen eingetroffen, seit Ende August hat die Stadt mehr als 63.000 Asylsuchende versorgt. Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) warf den anderen Bundesländern mangelnde Solidarität vor und appellierte an die Kanzlerin, München nicht im Stich zu lassen. Die Deutsche Bahn räumte am Sonntag erstmals einen regulären ICE für Flüchtlinge. Die Passagiere dieses Zuges von München nach Berlin mussten auf andere Züge umbuchen. Auch das bayrische Kabinett wollte noch am Sonntag Sofortmaßnahmen beschließen.

Die neuerliche Zuspitzung der Flüchtlingskrise fällt mit dem Oktoberfest zusammen, zu dem in München sechs Millionen Besucher erwartet werden. Bayerns Innenminister, Joachim Herrmann, hat deshalb eine deutliche Verstärkung der Bundespolizei in Bayern verlangt: „Wenn dann stark alkoholisierte Wies'n-Besucher auf so viele Flüchtlinge treffen wie in den vergangen Tagen, könnte es eng werden.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2015)

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