Das politische Zentrum zerbröselt. Die Labour Party will wieder sozialistisch sein und sucht auf neue Fragen alte Antworten. Genau dasselbe hat Großbritannien schon einmal erlebt.
London. Eines hat Jeremy Corbyn sofort nach seiner Wahl zum neuen Vorsitzenden der britischen Labour Party klargemacht: Die Zeiten der super gestylten, schnörkellos choreographierten und streng kontrollierten Inszenierungen sind vorbei. Wo die nun verpönte New-Labour-Ära auf happengroße „soundbites“ setzte, werden nun wieder ausschweifende, langatmige Reden gehalten, in denen Pathos fehlendes Rhetoriktalent ersetzt: „Lasst uns eine Kraft der Veränderung, eine Kraft für die Menschlichkeit in der Welt und eine Kraft für den Frieden in der Welt sein“, sagte Corbyn in seiner Siegesrede.
Das klingt nicht nur wie die Politik von vorgestern – das ist die Politik von vorgestern. Was Corbyns Kontrahenten freilich nicht erkannten: Das ist es, was die Mitglieder der Labour Party mit großer Mehrheit (Corbyn gewann 59,5 Prozent im ersten Wahlgang) wollen. Der 66-Jährige wurde nicht nur gewählt, weil er das Gegenstück zu dem Fertigteilfunktionär von New Labour ist. Er gewann auch, weil sich in ihm das tiefe Unbehagen vieler Menschen über die Unfähigkeit der traditionellen Politik artikuliert, Lösungen für die neuen Herausforderungen zu finden.
Verschwimmende Grenzen
Die Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2007 hat den Nachkriegskonsens gesprengt. In vielen europäischen Ländern entstanden radikale Bewegungen als Reaktion auf die enormen wirtschaftlichen Belastungen und die extrem ungleiche Verteilung der Kosten der Krise. Die Grenzen zwischen links und rechts verschwimmen. Der französische Front National steht in seiner Globalisierungskritik der griechischen Syriza um nichts nach. In Großbritannien jagte die rechtspopulistische UKIP im Mai der Labour Party die entscheidenden Stimmen ab.
Mit der Wahl Corbyns hat diese Entwicklung eine neue Qualität erreicht. Denn erstmals ist es eine staatstragende Traditionspartei, in der diese Stimmung die Oberhand gewinnt. Es ist eine Partei, die neun von 22 Regierungen seit dem Ende des Ersten Weltkriegs geführt und das Land geprägt hat. Ihre Mehrheiten gewann Labour bisher im Zentrum. Das ist nun vorbei.
Die Radikalisierung der Partei ist eine Folge der Radikalisierung ihrer Wähler, die sich von einer zentristischen Allerweltspartei, die sich von den Konservativen bestenfalls in Nuancen unterscheidet, immer weniger vertreten fühlen. Eine Untersuchung des Wahlforschers John Curtice zeigt, dass bei der letzten Wahl ein Drittel der Bevölkerung angab, dass sich ihre wirtschaftliche Situation verschlechtert habe, Labour aber nur ein Viertel dieser Stimmen gewinnen konnte. „Die Menschen haben das Vertrauen in das traditionelle sozialdemokratische Modell verloren“, schreibt Curtice.
Das ist es, was in der Wahl Corbyns manifest wird – nicht der Glaube an seine vorgestrigen Politikrezepte. Die Konservativen wittern nun die Chance, das politische Zentrum langfristig zu besetzen. Justizminister Michael Gove rief seine Partei auf, die Wahl Corbyns ernst zu nehmen: „Das ist nicht ein Unfall der Wahlarithmetik oder eine in Unkenntnis getroffene Entscheidung.“
Die entscheidende Frage aber ist, ob das Zentrum als Mehrheitsbasis noch existiert oder radikale Ränder zunehmend bestimmend sind – links und rechts. Der Politologe Time Bale meint, dass moderne Parteien nur die Wahl haben zwischen „preference shaping“ (die Partei formt die Meinung der Wähler) und „preference accomodation“ (die Partei übernimmt die Meinung der Wähler).
Während Corbyns Wahl eine Reaktion auf die neuen Herausforderungen ist, sucht er die Antworten in der Mottenkiste seiner Partei. Genau dasselbe hat das Land schon einmal erlebt, bei den Tories: Als Tony Blair 1997 John Major als Premier ablöste, gingen die Tories nach rechts und wählten William Hague zum Vorsitzenden. Hague wurde bei der Wahl 2001 von Blair vernichtet und durch den noch konservativeren Ian Duncan Smith ersetzt. Für die Tories dauerte es 13 Jahre, aus dem rechten Eck zurück zur Mehrheitsfähigkeit zu finden. Der Countdown läuft, wie lange es für Labour dauern wird.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2015)