Tschechien: Panik vor den Flüchtlingen

AKTUELLES ZEITGESCHEHEN Tschechien Fl�chtlinge von Polizei empfangen The Czech police detained some
AKTUELLES ZEITGESCHEHEN Tschechien Fl�chtlinge von Polizei empfangen The Czech police detained some(c) imago/CTK Photo (imago stock&people)
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Der Seelenfrieden der Tschechen ist gestört: Wegen der Flüchtlingskrise stieg Zahl „hysterischer Anrufe“ enorm, sagt die Polizei.

Prag. Der aufgeregte Anruf einer jungen Studentin im westböhmischen Domažlice (Taus) schreckte die Polizei auf: Da spaziere ein „schwarz gekleideter Flüchtling mit einem Maschinengewehr über der Schulter auf der Straße“ herum. Als die Polizei des Verdächtigen habhaft wurde, löste sich die Spannung in Wohlgefallen auf. Der vermeintliche Flüchtling war ein ortsansässiger Schornsteinfeger in Arbeitskluft. Die „Maschinenpistole“ war sein Handwerkszeug zum Durchputzen der Schlote. Im mittelböhmischen Mladá Boleslav (Jungbunzlau) nahm die Polizei zur gleichen Zeit um ein Haar drei dunkelhäutige Neuzugänge des dortigen Fußball-Erstligaklubs fest. Die waren von „aufmerksamen Bürgern“ telefonisch gemeldet worden, die offenbar meinten, die drei jungen Männer seien aus einem nahen Abschiebelager für Flüchtlinge ausgebrochen.

„Der Anstieg hysterischer Anrufe bei uns ist enorm“, heißt es bei der Polizei. Diese belegen, wie tief die Furcht bei vielen Tschechen vor jeder Art von Fremden sitzt. „Wir waren in den 40 Jahren hinter dem Eisernen Vorhang nicht daran gewöhnt, mit Fremden zusammenzuleben“, versucht Außenminister Lubomír Zaorálek am Dienstag in der „Hospodářské noviny“ den erschütterten Seelenfrieden seiner Landsleute zu erklären. Ein Spezifikum, das man im Westeuropa, wo man ganz andere Erfahrungen habe, offensichtlich nur schwer nachvollziehen könne.

Die Ängste in der Bevölkerung wachsen, seit Deutschland an der Grenze zu Österreich wieder Kontrollen eingeführt hat. Viele fürchten nun, dass die Menschen über ihr Land ausweichen könnten. Die Masse der Tschechen würde schärfsten Grenzkontrollen zustimmen. Schon vor dem Beschluss der Deutschen sagten drei Viertel der Tschechen, sie brauchten die Schengen-Freiheit nicht wirklich. Die Regierung hat bisher lediglich 200 zusätzliche Polizisten an die Grenze zu Österreich geschickt. Seit Sonntag wurden 81 Flüchtlinge aufgegriffen, die zu Fuß aus Österreich kamen. Sollten die Zahlen so niedrig bleiben, wird man keine schärferen Maßnahmen treffen, heißt es in Prag. Premier Bohuslav Sobotka und Innenminister Milan Chovanec werden zugleich nicht müde, die effektive Sicherung der EU-Außengrenze einzufordern. Die Lücken dort stellten für Tschechien eines der Haupthindernisse dar, einer Quotenlösung für die Verteilung der Flüchtlinge zuzustimmen: „Quoten lösen unter diesen Umständen nur eine Sogwirkung aus.“

Keine Vorschriften, was zu tun ist

Tschechien sei zudem nicht in der Lage, den Asylsuchenden solche finanziellen Bedingungen zu bieten wie Deutschland. „Ganz sicher werden wir das monatliche Taschengeld für die Asylsuchenden nicht wie dort auf 150 Euro erhöhen“, sagt Innenminister Chovanec. Und er stellt die Frage, ob die EU nach der Annahme einer Quotenregelung Asylsuchende „mit Gewalt“ nach Tschechien bringen wolle. „Wer nach Tschechien kommt, schläft hier eine Nacht und macht sich am Tag darauf auf den Weg zu den westlichen Nachbarn.“

Zu all den Problemen kommt hinzu, dass über Jahre keine Vorsorge für einen Flüchtlingsansturm getroffen wurde. Es gebe Vorschriften, was bei Hochwasser zu tun sei, aber nicht für die Integration von Menschen, schrieb eine Prager Dienstagszeitung. Premier Sobotka schlug zwar vor geraumer Zeit schon vor, Asylsuchende nicht ein Jahr warten zu lassen, bis sie eine Arbeit aufnehmen können. Aber man scheut sich im Parlament, weil man Gegenwind der Gewerkschaften fürchtet. Also lässt man es ganz.

Zwei Abgeordnete eines Prager Stadtbezirks verteilten dieser Tage auf dem Hauptbahnhof Essenspakete an Flüchtlinge, die aus einem Abschiebelager mit einem Papier entlassen wurden, das sie auffordert, das Land rasch zu verlassen. Geld dafür haben sie nicht, die Nacht über schlafen sie in einem Park vor dem Bahnhof. Die beiden Abgeordneten nahmen sieben Flüchtlinge mit nach Hause, kauften ihnen tags darauf Fahrkarten. Im richtigen Krisenfall, da sind sie sicher, „würde es hier ähnlich aussehen wie kürzlich noch auf dem Bahnhof in Budapest“. (hjs)

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.09.2015)

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