Das unfreiwillige Transitland Kroatien ist dem Andrang an Flüchtlingen nicht gewachsen. Nachbar Slowenien verweigert bisher einen Korridor.
Tovarnik. Der Spätsommer zeigt kein Erbarmen. Mitleidlos brennt die Sonne auf die Tausenden von erschöpften Wartenden herunter, die mit Pappkartons oder Tüchern auf den Köpfen ermattet im Gleisbett lagern. „Weißt du, wann der Zug kommt?“, fragt auf dem Bahnhof der kroatischen Grenzgemeinde Tovarnik verzweifelt der hagere Iraner Daniel Nael Salehi. Schon 16 Tage ist der christliche Geistliche aus Teheran mit seiner Familie in Richtung Deutschland unterwegs. Doch das stundenlange Ausharren ohne Wasser und Schatten hat ihn restlos ausgezehrt. Ob die in der Hitze flimmernden Schienen denn in Kroatiens 300 Kilometer entfernte Hauptstadt Zagreb führten, will er wissen: „Wir wollen zu Fuß gehen.“
Chaotische Szenen
Immer neue Gruppen von Flüchtlingen ziehen in der Mittagshitze über die Maisfelder aus dem nahen Serbien über die grüne Grenze zu dem hoffnungslos übervölkerten Landbahnhof. Kinder weinen, Eltern schwitzen. Der Schweiß strömt auch den Polizisten mit den blauen Schildkappen über den Nacken. „Angeblich ist ein Zug aus Zagreb unterwegs, aber wir haben selbst keine Ahnung, was geschieht. Es ist einfach ein Chaos.“ Am Abend entlud sich die Spannung, als die Polizei die Flüchtlinge in Busse in ein Aufnahmelager nach Zagreb karren wollten. Familien wurden auseinandergerissen, es kam zum Handgemenge, es spielten sich chaotische Szenen ab. Schließlich brachen Hunderte Flüchtlinge aus, um sich zu Fuß auf dem Weg nach Zagreb zu machen.
„Wir haben die völlige Kontrolle über die Grenze“, hatte in der Nacht zuvor noch Kroatiens nach Tovarnik geeilter Innenminister Ranko Ostojić verkündet. Doch am nächsten Tag ist in der Landgemeinde von Würdenträgern nichts mehr zu sehen – und scheinen die wenigen Helfer und Ärzte von dem offenbar unerwarteten Ansturm der Neuankömmlinge völlig überfordert. Und Ostojić erklärte angesichts des Ansturms: „Wir können keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen.“ Es sei an Griechenland, Mazedonien und Serbien, den Zustrom zu stoppen.
Aufnahmekapazitäten sind erschöpft
Mehr als 7000 Flüchtlinge hätten innerhalb von 24 Stunden von Serbien kommend die Grenze überquert, vermelden Kroatiens Medien schon am Vormittag: Auf 4000 bis 5000 wird vom UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR allein die Zahl der Menschen in Tovarnik geschätzt. Kreisrat Bobo Galić schlägt bereits zu Mittag Alarm: „Wir werden Zeugen einer humanitären Katastrophe“, sagt er. „Alle angeblichen Notfallpläne der Regierung sind geplatzt.“
Tatsächlich scheint Kroatien schon einen Tag nach der Westverschiebung der sogenannten Balkanroute dem Flüchtlingsansturm kaum gewachsen. Die Aufnahmekapazitäten der wenigen Lager ist mit rund 1800 Plätzen längst erschöpft. Die Zahl der Neuankömmlinge steigt, wohin sie ziehen sollen, ist noch ungewiss. Denn Kroatiens Nachbar Slowenien verweigert sich bisher Zagrebs Plänen für einen Transitkorridor nach Österreich.
In der Flüchtlingskrise scheint es sich zu rächen, dass der vom Dauerwahlkampf und einer Welle neu erwachten Nationalismus erhitzte EU-Neuling schon seit Monaten eher kühle Beziehungen und eine karge Kommunikation zu seinen Nachbarn Serbien und Slowenien pflegt. Sie sei dagegen, einen Korridor durch Kroatien und Slowenien für die Flüchtlinge zu organisieren, die nach Österreich und Deutschland wollten, verkündete schon in der Nacht zu Donnerstag Sloweniens Innenministerin Vesna Györkös Znidar: „Von Kroatien erwarten wir, dass es tatsächlich die Grenzen kontrolliert – und die Regeln der EU respektiert.“
Die Grenzkontrolle müsse „härter“ sein, fordert derweil im fernen Zagreb Kroatiens Staatspräsidentin Kolinda Grabar Kitarović: Die Zahl der Flüchtlinge, die „unkontrolliert“ ins Land gelange, sei „zu groß“.
An Polizisten gibt es auf dem von den Übertragungswagen der internationalen TV-Stationen belagerten Bahnhof von Tovarnik zwar keinen Mangel, an Wasser jedoch schon. Plastikbecherweise schenken es die gestresst wirkenden Helfer des lokalen Katastrophenschutzes an Frauen, Kinder und Familienväter aus. „Dehydrierung“ sei das größte Problem der Menschen, berichtet der Notfallarzt Anton Stasić aus dem nahen Vukovar: „Die Menschen sind erschöpft.“
„In Syrien habe ich alles verloren“
Auch das Schild mit dem EU-Banner vermag auf dem Bahnhof kaum Schatten zu bieten. Um vier Uhr morgens sei er von der nahen serbischen Grenzgemeinde ?id zu Fuß nach Tovarnik gelangt – und in neun Stunden habe er weder Wasser noch irgendeine Verpflegung erhalten, seufzt der bärtige Zahnarzt Fadil. Seine Praxis in Syrien sei zerstört, „alles, was ich hatte, habe ich verloren“, erzählt er. Deshalb nehme er schon seit 13 Tagen die Flüchtlingstortur in Richtung einer „neuen Zukunft“ in Europa auf sich: „Aber nun hängen wir fest.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2015)