Gewalt in Nahost: Israel riegelt Ostjerusalem ab

Trauer und Wut: Das Opfer eines palästinensischen Attentäters in Jerusalem wird beigesetzt.
Trauer und Wut: Das Opfer eines palästinensischen Attentäters in Jerusalem wird beigesetzt.(c) imago/Xinhua
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Nach der neuen Terrorwelle setzt die israelische Regierung auf Härte: Arabische Viertel werden gesperrt, hunderte Soldaten sollen die Polizei unterstützen.

Jerusalem. Kurz vor der Kreuzung mitten in Jerusalem stellen israelische Sicherheitskräfte mehrere Polizei- und Armeefahrzeuge quer auf die Straße. Der Verkehr gerät ins Stocken. Ein palästinensischer Fahrer muss aus seinem Lastwagen steigen und sich ausweisen.

Seit gestern, Mittwoch, sind entlang der bis 1967 geltenden Waffenstillstandslinie zwischen Israel und Jordanien provisorische Kontrollpunkte eingerichtet. Straßen, die zu arabischen Vierteln führen, sind komplett abgeriegelt. Die Sicherheitsmaßnahmen sind eine Reaktion auf die Gewalt palästinensischer Angreifer, die am Dienstag mit drei jüdischen Todesopfern einen weiteren Höhepunkt erreichte. Am Mittwoch kam es erneut zu zwei Messerattacken, wobei eine 70-jährige Frau schwer verletzt wurde.

Zudem dürfen künftig Familienhäuser von Attentätern (sie werden nach einer Terrortat von Israels Armee demoliert) nicht mehr aufgebaut werden. Ebenso kann die Polizei Eigentum von Attentätern konfiszieren. Angreifer aus Jerusalem riskieren auch, ihr Wohn- und Aufenthaltsrecht in der Stadt zu verlieren. Und der polizeiliche Grenzschutz soll von hunderten Soldaten unterstützt werden.

Auslöser der neuen Terrorwelle Anfang Oktober waren Streitereien am Tempelberg. Arabische Angreifer gingen mit Messern auf jüdische Passanten und Fahrgäste eines Linienbusses los. Auch Polizisten wurden attackiert, fast alle Attentäter wurden erschossen. Israelische Sicherheitskräfte lösten mit Gewalt Proteste auf. Insgesamt starben sieben Israelis und 30 Palästinenser.

Israels Premier, Benjamin Netanjahu, setzt nun auf Härte: Dass die Angriffe palästinensischer Einzeltäter mit dem Stillstand des Friedensprozesses zusammenhängen könnten, glaubt er nicht: Ziel dieser neuen Attentatsserie sei allein, „uns zu vernichten“.

„Folge der israelischen Politik“

Saeb Erekat, der im Auftrag der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) die bisherigen Friedensverhandlungen leitete, betrachtet die aktuelle Gewaltwelle hingegen als „natürliche Folge der israelischen Politik“. Auch die palästinensische Journalistin Nidal Rafa aus Ostjerusalem ist davon überzeugt, „dass es niemals Ruhe geben wird, solange die Besatzung andauert“. Niemand solle „dem Irrglauben folgen, Israel könne unser Land konfiszieren und seine Siedlungen ausbauen, ohne damit auf Widerstand zu stoßen“. Rafa glaubt, dass die neuen Schritte der Regierung, „die nur mit Härte und noch mehr Härte reagiert“, genauso fruchtlos bleiben werden wie die bisherigen.

Nach Ansicht von Jakow Amidror, ehemals Nationaler Sicherheitsberater in Jerusalem, können die Attentäter weder durch Abschreckung noch von Geheimdiensten gestoppt werden. Denn die Angreifer agierten „oft spontan“ und ohne den Auftrag einer politischen Organisation. Den in Israel umstrittenen Aufruf an die Bevölkerung, selbst zu den Waffen zu greifen, um im Ernstfall einschreiten zu können, hält Amidror für richtig: Bis heute habe noch „kein israelischer Zivilist grundlos losgefeuert“. Auch Ex-Finanzminister Jair Lapid von der Zukunftspartei setzt auf eine Strategie der harten Hand: „Wir sollten mit Macht dort draußen sein, um die Region zu beruhigen und Terrorangriffe auf israelische Bürger zu verhindern.“ Die liberale „Ha'aretz“ warnte dagegen vor den Risken: „Schusswaffen in den Händen untrainierter Leute können zur Anarchie führen.“

Scharfe Kritik an der israelischen Regierung kommt unterdessen vonseiten der UNO. Ein Sprecher von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon sagte, es werde übertriebene Gewalt angewendet: „Die augenscheinlich übertriebene Gewaltanwendung der israelischen Sicherheitskräfte ist besorgniserregend und verlangt nach einer ernsthaften Überprüfung.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.10.2015)

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