Die Intifada der Facebook- Generation

Palästinensische Jugendliche spielen Krieg – ein archaischer Kampf wie David gegen Goliath.
Palästinensische Jugendliche spielen Krieg – ein archaischer Kampf wie David gegen Goliath.AFP
  • Drucken

Die Palästinenser haben in ihrem Kampf gegen Israel eine neue Waffe entdeckt: die sozialen Medien. Die Bilder und Videos erzählen zwar nur die halbe Wahrheit, stacheln aber viele frustrierte Jugendliche zur Gewalt auf.

Wimpel in Rot-Schwarz-Weiß-Grün, den Nationalfarben Palästinas, und in Gelb, für die staatstragende Fatah-Partei, spannen sich über den Vorhof des Gemeindezentrums in Jalazone, an einem der zahllosen Hügel rund um Ramallah, der Hauptstadt im Westjordanland. An den Wänden sind Konterfeis der PLO-Ikone Jassir Arafat und von Ahmad Sharaka affichiert, des jüngsten „Märtyrers“, wie viele Palästinenser die Todesopfer im Kampf gegen den Erzfeind Israel apostrophieren. Überall in den staubigen Straßen des einstigen Flüchtlingslagers hängen in der Manier eines Popstars die druckfrischen Poster des 13-Jährigen, der bei einer Straßenschlacht gegen israelische Soldaten sein Leben gelassen hat.

Aus dem Lautsprecher im Hof dröhnt getragene Musik. Am Eingang des Gemeindezentrums stehen Ahmads Verwandte Spalier, um die Kondolenzwünsche entgegenzunehmen. Auch der in Ungnade gefallene Ex-Premier Salam Fayyad ist zur dreitägigen Trauerfeier erschienen, bei der traditionell Mokka, Datteln und ein Lammgericht gereicht werden. Abdullah Sharaka, der gebeugte Vater, hat ein Palästinensertuch um seinen Hals geworfen. Tags zuvor hat er seinen Sohn in einem Trauerzug zu Grabe getragen, bei dem das öffentliche Leben in Ramallah für einen Vormittag lang stillstand – auch aus Angst vor Ausschreitungen.

Leise und in simplen Worten preist er Ahmad als einen guten Sohn, der nichts Böses im Schilde geführt habe. Er wähnte ihn beim Schwimmen. Dabei ging Ahmad am Grenzwall, der von Steinen übersäten Brachfläche zwischen der palästinensischen Stadt al-Birah und der jüdischen Siedlung Bet El, auf die Barrikaden, als ihn ein tödlicher Schuss niederstreckte. Vor allem Hanin, Ahmads Zwillingsschwester, sei untröstlich, erzählt der Vater von nunmehr sechs Kindern.


David gegen Goliath. Mohammed, Ahmads 22-jähriger Cousin, zeigt Handyfotos von Ahmad in der Pose eines Rebellen, vermummt und mit einer Steinschleuder. Er selbst hat nur eine Verletzung davongetragen, sein Unterarm ist einbandagiert. Draußen üben sich derweil Zehn- und Elfjährige im Steinewerfen. Vollmundig bereiten sie sich darauf vor, Krieg nicht nur zu spielen, sondern auch selbst an die Front vorzurücken – für die „gerechte Sache“, wie sie insinuieren: die „Befreiung“ von der Besatzung und den ungehinderten Zugang zum Tempelberg, dem Haram al-Sharif samt Felsendom und al-Aqsa-Moschee. Noch Jüngere ballern mit Plastikgewehren herum.

Seit Wochen, seit den Übergriffen radikaler jüdischer Siedler und den Vergeltungsaktionen palästinensischer Hitzköpfe, tobt um die heiligen Stätten in Jerusalem wieder ein verbissener Konflikt. Zu den jüdischen Feiertagen Anfang Oktober entluden sich schließlich die Spannungen, und die Serie von Messerattacken und Angriffen auf Israelis droht womöglich zu einer dritten Intifada zu eskalieren – einem Aufstand der Palästinenser, einem „Krieg der Steine“, der Assoziationen zum archaischen Konflikt zwischen David und Goliath weckt und zugleich Erinnerungen an den Ausbruch der ersten Intifada 1987 wachruft.

In den Palästinensergebieten ist indessen eine Generation nachgewachsen, die den blutigen Aufruhr gegen Israel nur aus zweiter Hand kennt, vom Hörensagen. Eine neue Projektionsfläche schürt den Zorn der Facebook-Generation: Die Bilder und Videos, die in den sozialen Netzwerken kursieren und von vermeintlichem schreienden Unrecht berichten, multiplizieren und kanalisieren in Sekundenschnelle die Aggression einer frustrierten Jugend.

Da ist etwa die Aufnahme eines jungen Palästinensers, der verstört am Checkpoint taumelt, unter „Tötet ihn“-Parolen von Siedlern und den Schüssen israelischer Soldaten zu Boden sinkt. Wie sich herausstellt, hat er zuvor einen Israeli niedergestochen. Da ist die Frau, gezielt angeschossen an einer Busstation, der Jugendliche, mit voller Absicht von einem Panzerwagen gerammt, der Bub, ausgebreitet auf dem Asphalt mit grotesk verzerrten Beinen. Bilder wie diese geben nur einen Ausschnitt wieder, sie blenden die Vorgeschichte aus und manipulieren mitunter die Wirklichkeit. Via „Palestine Today“, dem Propagandasender des Islamischen Jihad, flimmern die Sequenzen in einer Endlosschleife in Friseursalons, Cafés und Restaurants.

Ihab Bsaisso, der palästinensische Regierungssprecher und Hobbypoet, und der Politiker Mustafa Barghouti führen die YouTube-Videos im Brustton der Empörung vor, als Anklagepunkt gegen die „Okkupationsmacht“ Israel. „Wir sind nur Bürger zweiter und dritter Klasse“, klagen sie. Auch Präsident Mahmoud Abbas setzt darauf, in seinem diplomatischen Feldzug zur Ächtung Israels und für eine Anerkennung eines Palästinenserstaates eine Welle des internationalen Protests zu generieren. Angesichts der Flüchtlingsmisere und anderer Krisen ist der Dauerkonflikt aus den Schlagzeilen geraten. In einer Rede rief der amtsmüde Führer kürzlich zum friedlichen Widerstand auf. Zugleich warf Abbas der israelischen Armee Exekutionen vor, da sie ohne Vorwarnung das Feuer gegen palästinensische Angreifer eröffnete. Abbas hat indes an Glaubwürdigkeit und Popularität eingebüßt.

Bsaisso, Barghouti und andere bezeichnen Israel polemisch als Apartheidstaat. Anhand von Landkarten demonstriert Barghouti, in dessen Büro ein Foto des Felsendoms als Symbol für ein Großpalästina prangt, durchaus eindrucksvoll die Zerstückelung des Westjordanlands zu einem Fleckerlteppich, zerschnitten in A-, B- und C-Zonen, unter weitgehender Kontrolle des israelischen Militärs. Zum Vergleich legt er eine Karte Südafrikas zu Apartheid-Zeiten vor. Aus seiner Hosentasche holt der eloquente Aktivist Gummigeschosse hervor, neuartige Munition der israelischen Armee, bei der nur eine dünne Schicht an Hartgummi das Metall umhüllt.


Hass auf beiden Seiten. Barghoutis Mitarbeiter haben die Geschosse nur ein paar Steinwürfe vom Büro entfernt aufgelesen, wo tagtäglich Rauchsäulen aufsteigen, Tränengasschwaden herumziehen und die Sirenen aufheulen. Vor dem Grenzwall der jüdischen Siedlung Bet El, wo Ahmad Shakara den Tod gefunden hat, versammeln sich junge Palästinenser, darunter Studenten der nahen Bir-Zeit-Universität, zum Kampf gegen Israel. Sie stecken Autoreifen in Brand, schleudern Steine und werfen Molotowcocktails. Inzwischen mischen sich sogar junge Frauen, in Mäntel gehüllt, unter die Straßenkämpfer.

In einer Kampfpause ziehen Ibrahim und seine Mitstreiter ihre Kufiya herunter, das schwarz-weiß gewürfelte Kopftuch, das sie um das Gesicht wickeln – aus Schutz vor dem Tränengas und um unerkannt zu bleiben. „Wir haben lang stillgehalten“, meint Ibrahim. Wut über Schikanen der israelischen Militärs an den Checkpoints, über Armut, Arbeitslosigkeit und den tristen Alltag treibt sie an. Hoffnungslosigkeit, Frust und Verzweiflung motivieren sie zur Gewalt, wie diplomatische Beobachter und Experten einhellig analysieren. Der Nahost-Friedensprozess ist längst an einem toten Punkt angekommen. „Früher oder später wird dies in einer Explosion enden“, sagt Bader Zamareh, der jährlich eine Jugendstudie im Westjordanland und im Gazastreifen erstellt. „Die Kids glauben, sie haben nichts zu verlieren – außer ihrem Leben.“

Auf dem Schild zum Eingang seines Jugendprojekts „Sharek“ in Ramallah ist neben den Logos für Alkohol und Zigaretten auch die Fahne mit dem Davidstern durchgestrichen. Zamarah und seine Mitarbeiter sind glühende Verfechter eines Boykotts Israels auf allen Ebenen. Hier wie dort, bei den fanatischen jüdischen Siedlern in Hebron wie bei vielen Palästinensern – nicht nur der Hamas –, dominiert der Hass. Auf beiden Seiten machen via Handy aufwühlende Schlagzeilen über neueste Zwischenfälle und Anschläge die Runde. Oft verbreiten sich auch nur Gerüchte. „Kollektive Hysterie“ nennt es ein Diplomat.

Rama, eine palästinensische Journalistin, wischt auf ihrem Smartphone wie gebannt über die Facebook-Postings zum Tod des 22-jährigen Baha Elayan, eines engen Freundes. Der Student und Künstler hat in einem Bus voller orthodoxer Juden in Jerusalem um sich geschossen, während ein Freund gleichzeitig auf einige Passagiere eingestochen hat. Sie brachten zwei Menschen um und kamen dabei selbst ums Leben. Schock und Fassungslosigkeit sind Rama ins Gesicht geschrieben. Nichts, erzählt sie, habe auf eine solche Tat hingedeutet. „Er hätte noch so viel zu geben gehabt.“

Im muslimischen Viertel der Altstadt Jerusalems, unweit des Hauses des verstorbenen Premiers Ariel Scharon, unterbricht eine Salve dumpfer Schüsse die frommen Pilgergesänge und Rosenkranzgebete an der Via Dolorosa. Kurz darauf jault die Sirene eines Ambulanzwagens auf. Am Damaskustor haben Wachposten einen 15-jährigen palästinensischen Messerattentäter erschossen. Vor der wässrigen Blutlache knien mehr als ein Dutzend Jugendliche. Sie richten sich auf, schmettern grimmig „Allahu akhbar“, und es klingt wie ein Aufruf zur Rache am Kreuzungspunkt der drei Weltreligionen mit dem unheilvollen Gemisch aus Politik und Religion, aus Geschichte und Geografie.

Hinweis
Die Reise fand auf Einladung der Europäischen Union statt.

GESCHICHTE

1987. Die erste Intifada der Palästinenser gegen Israel brach 1987 als „Krieg der Steine“ für beide Seiten, für Israel wie die PLO Jassir Arafats, überraschend aus und gab nicht zuletzt einen Impuls für Friedensverhandlungen, die 1993 in das Oslo-Abkommen mündeten.

2000. Der Auftritt des damaligen Oppositionspolitikers Ariel Sharon auf dem Tempelberg löste die zweite, blutige Intifada aus. Sie dauerte vier Jahre und war von den rivalisierenden Palästinenserfraktionen Fatah und Hamas gesteuert. Eine Welle von Selbstmordattentaten erschütterte Israel und führte schließlich 2005 zum Abzug aus dem Gazastreifen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.