Lopatka erhielt bei einem Besuch in Berlin Einblick in die Flüchtlingsstrategie der deutschen Bundesregierung. Merkel setzt auf ein Grenzschutzabkommen mit der Türkei und erhöht den Druck auf Osteuropa.
Wien/Berlin. Für Angela Merkel war es wieder ein Tag ganz im Zeichen der Flüchtlingskrise. Die CDU-Vorsitzende suchte nach einem Konsens mit ihrem bayerischen Widerborst, CSU-Chef Horst Seehofer, stellte sich danach der gemeinsamen Bundestagsfraktion der Union, und davor schon hatte sie beim Bund der deutschen Industrie vor kleinteiligen Ansätzen gewarnt und europäische Lösungen in der Flüchtlingsfrage eingemahnt. Zwischendurch nahm sich die deutsche Bundeskanzlerin Zeit für Reinhold Lopatka und andere Mitglieder des ÖVP-Klubvorstands, die nach Berlin gereist waren. Nach 15 Minuten eilte Merkel weiter, ihr Kanzleramtschef, Peter Altmaier, übernahm den Termin. Bei ihm laufen die Fäden der deutschen Flüchtlingspolitik zusammen.
Wie Lopatka im Gespräch mit der „Presse“ erläuterte, ist Merkel überzeugt, mit einem Bündel strategischer Maßnahmen eine Trendumkehr schaffen und die Immigration von Flüchtlingen nach Europa drosseln zu können. So habe die Kanzlerin gleich nach der türkischen Parlamentswahl Kontakt mit Premier Davutoğlu aufgenommen, um ein Abkommen zur Sicherung der EU-Außengrenze voranzutreiben. Bisher gebe es noch keine Vereinbarung. „The proof of the pudding is in the eating“, habe die deutsche Kanzlerin angemerkt. Mehr Sorgen bereite ihr allerdings, dass in Libyen, gegenüber Italien, kein Partner existiere, mit dem Europa eine Abmachung zur Grenzkontrolle schließen könne, so Lopatka.
In der EU wolle Deutschland den Druck erhöhen, um eine gerechtere Verteilung von Flüchtlingen zu erreichen, die in Hotspots in Griechenland und Italien gesammelt werden sollen. „Das funktioniert derzeit überhaupt nicht“, erklärte Lopatka. Und: „Ankündigungen sind zu wenig. Wir müssen endlich umsetzen.“ Zuletzt hätten die deutsche und österreichische Regierung die baltischen Staaten und Polen aufgefordert, mehr Asylwerber aufzunehmen, erzählte der VP-Klubobmann.
Keine missverständlichen Signale mehr
Die Union sei fest entschlossen, keine Migranten mehr durch missverständliche Signale anzuziehen. Kanzleramtschef Altmaier wolle die Ausweisung von Afghanen und Pakistani, die kein Asyl erhalten, beschleunigen. Derzeit liege die Rückführungsquote bei Pakistani in Deutschland nur bei 20 Prozent, in Großbritannien bei 80 Prozent. Offen bleiben wolle Merkel für syrische Kriegsflüchtlinge. Da halte die CDU-Chefin ihre christliche Linie, so Lopatka. Sie wolle zudem versuchen, die Bedingungen in türkischen, libanesischen und jordanischen Flüchtlingslagern zu verbessern und Schutzzonen in Afghanistan zu errichten. Auch dafür seien Solidarität und finanzielle Unterstützung der EU nötig. Bei der Finanzkrise habe in der EU noch der Eindruck vorgeherrscht, es gehe um das Geld aller. Jetzt glaubten manche EU-Mitglieder, die Flüchtlingskrise betreffe sie nicht, so Lopatka. Umso wichtiger sei ein vertrauensvoller Umgang zwischen Österreich und Deutschland. Die Irritationen an der gemeinsamen Grenze seien großteils ausgeräumt.
Wie ernst Merkel die Situation einschätzt, machte sie vor Parteifreunden in der Nacht auf Dienstag in Darmstadt klar. Sie warnte vor militärischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan, falls durch die Schließung von Grenzen ein Rückstau an Flüchtlingen entstehe. „Ich will jetzt nicht schwarzmalen. Aber es geht schneller, als man denkt, dass aus Streit auch Handgreiflichkeiten werden und aus Handgreiflichkeiten dann auch Dinge entstehen, die wir alle nicht wollen.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2015)