Syrien: Russische Angriffe "nicht beeindruckend"

Russischer Tupolew Tu-22M3
Russischer Tupolew Tu-22M3 "Backfire" beim Bombenabwurf über Syrienimago
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Die Militärintervention Moskaus sei weniger effektiv als von Regierung, russischen Militärs und Medien behauptet, meinen nun auch österreichische Militärexperten in einer Analyse für die "Presse".

Die seit Ende September anhaltende russische Militärintervention in Syrien ist trotz aller Behauptungen der Regierung in Moskau, russischer Militärs und Medien vermutlich weniger effektiv als angegeben: Zu dem Schluss kamen in den vergangenen Wochen nicht nur westliche Militärs und Militärexperten bei Institutionen wie "Jane's Defence" in London, sondern auch Mitarbeiter der österreichischen Luftfahrt- und Militärplattform "airpower.at".

"Wir haben uns hingesetzt und auf Basis der Bilder und zugänglicher Informationen den Einsatz der Russen in Syrien analysiert", sagt Martin Rosenkranz, Chefredakteur von Airpower, zur "Presse". "Und während im Internet viele Jubelmeldungen kursieren, wie gut und toll die Russen sind und alles auf einmal plattmachen und den IS ("Islamischer Staat", Anm.) rausbomben, etc., sind wir zu einem etwas anderen Schluss gekommen."

Vergeltungswelle nach Sinai-Attentat

Tatsächlich hatte es zuletzt vor allem in den Tagen um den 17. bis 20. November von russischer Seite eine besonders große Zahl an Erfolgsmeldungen gegeben, hinter der wirklich eine deutliche Intensivierung der Angriffe steckt. Grund war wohl Vergeltung gewesen, nachdem sich bestätigt hatte, dass der Ende Oktober über dem Sinai abgestürzte russische Airbus mit Touristen zum Ziel einer Bombe der Islamisten geworden war.

Während auf dem russischen Luftwaffenstützpunkt beim Basil al-Assad-Flughafen südlich der Küstenstadt Latakia zuletzt also etwa 34 Kampfflugzeuge (exklusive Hubschrauber) stationiert waren, griffen in den Tagen nach dem 17. November von Russland direkt auch strategische Bomber etwa der Typen Tupolew Tu-95 "Bear" und Tu-160 "Blackjack" über den Iran kommend ein, sodass die Gesamtluftflotte vorübergehend auf 60 bis 70 Maschinen stieg - dazu wurden mindestens 18 Marschflugkörper von Schiffen im Mittelmeer und im Kaspischen Meer aus auf Ziele in Syrien gefeuert.

Russische Kriegsschiffe starten Marschflugkörper im Kaspischen Meer
Russische Kriegsschiffe starten Marschflugkörper im Kaspischen MeerAPA/AFP

"Der IS hat riesige Verluste erlitten", sagte damals Verteidigungsminister Sergei Shoigu. Mehr und mehr Islamisten würden fliehen. Allein bei einem Schlag auf ein einzelnes Ziel in Ostsyrien bei Deir ez-Zor seien 600 IS-Kämpfer umgekommen. Der syrische Brigadegeneral Ali Mahub sekundierte: "Russische Massenluftangriffe haben den internationalen Terrororganisationen in Syrien irreparablen Schaden zugefügt."

Bei Airpower sieht man die Sache wie gesagt moderater: Die russische Luftmacht in Latakia sei zahlenmäßig ja "ganz hübsch", sagen Rosenkranz und sein Kollege Georg Mader, der auch als Miliärjournalist für "Jane's Defence" und andere Medien schreibt. Sie habe zuletzt aus je zwölf schweren Jagdbombern Suchoi Su-24 "Fencer" (das war vor dem Abschuss der Fencer durch die Türken vor einigen Tagen) und zwölf Erdkampfflugzeugen Su-25 "Frogfoot" bestanden, dazu kommen sechs hochmoderne schwere Su-34 "Fullback"-Jagdbomber und vier Mehrzweckjets Su-30SM "Flanker-C" in Primärrolle als Jäger.

Wo ist das neue Zeug?

Zunächst aber, so ein Einwurf, datierten die konkret benutzten Frogfoots auf die 1970er/80-Jahre. "Wo sind die modernen Frogfoot-Varianten, die all die Jahre auf der MAKS (Luftfahrtshow bei Moskau, Anm.) präsentiert wurden?", so Rosenkranz. "Das Zeug flog so schon in Afghanistan." Auch die Fencers (Indienststellung seit 1974) sind nicht eben die neuesten Flugzeuge, aber für ihren Job angesichts eines Umfeldes ohne starke Luftabwehr durchaus mehr als ausreichend.

"Frogfoots" in AktionSputnik

Man habe, sagte Verteidigungsminister Shoigu, im erwähnten Zeitraum Mitte November mit 69 Flugzeugen 143 Einsätze pro Tag geflogen. In der ersten Woche der russischen Luftangriffe Anfang Oktober waren es - nur mit den Maschinen in Syrien - bis zu 60 Einsätze am Tag gewesen. Das mag ja alles stimmen. Doch bei Airpower hat man - in Bezug auf die nahe Latakia stationierten 34 Flugzeuge - eine Langzeitberechnung angestellt:

Weniger Einsätze, weniger Bombenlast

"Obwohl dort aufgrund der kurzen An- und Rückflüge gut vier Einsätze am Tag pro startklarer Maschine möglich wären, werden in Summe nur bis zu 20 pro Tag geflogen. Selbst bei durchschnittlicher Verfügbarkeit sollte man aber auf mindestens 50 Einsätze pro Tag kommen", rechnen Rosenkranz und Mader vor. (Die rechnerische Höchstzahl exklusive der Jäger von 30 Jagdbomber/Erdkampfjets mal vier Einsätze pro Tag, also 120, bleibt freilich hypothetisch.)

Weiters seien die Waffenlasten, die rausgetragen würden, vergleichsweise minimal, nur ein Viertel bis maximal ein Drittel der Nutzlastkapazitäten der Maschinen. Auf sehr vielen Fotos und Videos sehe man dabei normale "klassische" freifallende Bomben Typ 1980er-Jahre und nur selten Lenkbomben. "Natürlich sind da auch Lenkwaffen", heißt es. "Aber auch aus dieser Epoche (z.b. KAB-500L und S, Kh-25). Von "neuesten" Waffen kann keine Rede sein."

Gewöhnliche
Gewöhnliche "Eisenbomben" an den Pylonen; im Hintergrund: Suchoi Su-24M Frontbomber in Latakiaimago/ITAR-TASS
Lenkbomben an einer Su-34
Lenkbomben an einer Su-34 "Fullback"Jane’s Aviation Desk/Rossija24

Immer wieder sehe man auch, dass die Flugzeuge auf der Basis aufgereiht dicht nebeneinander an oder auf einer Landebahn stehen, und: "Die Bomben liegen gleich abseits daneben im Freien, ohne Box rundum. Also die Russen haben dort zwar schiffs- und bodengestützt durchaus leistungsfähige Fliegerabwehrsysteme, aber wirklich Sorge vor Angriffen dürften sie nicht haben", so Rosenkranz.

Sorgloses Parken und Lagern

Tatsächlich könnten einschlagende Geschosse Aufständischer in diesem Umfeld verheerende Wirkung haben - abgesehen von einem potenziellen Angriff aus der Luft.

Dicht an dicht stehen die russischen Maschinen auf der Airbase nahe Latakia. Das Foto stammt vom September, die Situation ist aber nicht viel besser.
Dicht an dicht stehen die russischen Maschinen auf der Airbase nahe Latakia. Das Foto stammt vom September, die Situation ist aber nicht viel besser. CNAS/Airbus

"Unterm Strich kurz gesagt", so die Analyse: "Beeindruckend ist das nicht."

Ursächlich Schuld an der trägen Einsatzrate könnten Nachschubschwierigkeiten sein, heißt es. Die anfänglichen Überflüge russischer Transporter über den Balkan nach Syrien hat die Nato abgestellt, jetzt bleibt nur die Iran-Route. Nachschub könnte auch mit Schiffen kommen, "aber diese sollten bald kommen, Zeit genug war."

Syrien als Übungsgelände?

Möglicherweise sei ein langer, intensiver Lufteinsatz auch gar nicht das bestimmende Motiv Moskaus: "Viel offensichtlicher ist das Bestreben, möglichst viele Verbände Einsatzerfahrung sammeln zu lassen", so die Analysten. Darauf deute auch das Faktum hin, dass vier Typen von Jets nach Syrien verlegt wurden, wo ein Typ reiche und weniger Personal und Logistik erfordern würde.

Auf der russischen Airbase in Syrien
Auf der russischen Airbase in SyrienRussian Ministry of Defence

Aporopos üben: Mader weist im Gespräch mit der "Presse" auch auf ein interessantes Bild hin, das einem Bericht des russischen Fernsehens entnommen wurde (siehe unten). Es zeigt die zwei Piloten einer Su-24 "Fencer" beim Einsteigen in ihr Flugzeug. Was daran so besonders ist? "Die Männer tragen ganz normale Sommeruniform, vor allem keine Anti-G-Hosen."

Das sind spezielle Hosen bzw. Anzüge, in denen - einfach gesagt - durch Einbringen von Druckluft und somit durch Druckausübung auf die Beine verhindert wird, dass den Trägern bei extremen Flugmanövern (Luftkampf, Kurven) das Blut in die untere Körperregion gepresst wird und so Ohnmacht auftritt. Ein Fehlen solcher Bekleidung, wie sie in modernen Luftwaffen eigentlich üblich ist, sei ein ziemliches Alarmzeichen, sagt Mader, der dafür darauf hinweist, dass die Männer auf dem Foto offenkundig Heiligen-Ikonen auf ihren Schreibbrettern mit ins Flugzeug nehmen (siehe Detailhervorhebung).

Russische Piloten ohne Anti-G-Hosen, dafür mit Ikonen
Russische Piloten ohne Anti-G-Hosen, dafür mit IkonenJane’s Aviation Desk/Rossija24

Im Übrigen scheint der Bericht, wonach gleich 600 IS-Kämpfer bei einem Angriff mit Marschflugkörpern auf nur ein Ziel gefallen seien, übertrieben: "Wie soll das gehen?", meint Rosenkranz, und holt zu historischen Vergleichen aus: "Die Deutschen haben im Zweiten Weltkrieg mit einer V2-Rakete das Kaufhaus ,Woolworths´ in London getroffen. Da gab es dokumentiert 168 Tote. Die V2 war eine 4000 Kilogramm schwere Rakete, davon 1000 Kilogramm Sprengstoff, die mit 3000 km/h eingeschlagen ist - also ein wirklich schwerer Gefechtskopf in Kombination mit wirklich viel kinetischer Energie. Da kommt keine konventionelle Cruise Missile ran", meint Rosenkranz.

"Der schwerste Treffer mit einer V1 (dem kleineren und langsameren Vorgänger der V2, Anm.) war mit 121 Toten auf eine Kapelle der Wellington Kaserne während eines Gottesdienstes. Das war ein 850-kg-Gefechtskopf mit 640 km/h - das ist schon eher im Bereich aktueller Marschflugkörper."

Nach der Zerstörung des Kaufhauses Woolworths in London, 1944, durch eine deutsche V2
Nach der Zerstörung des Kaufhauses Woolworths in London, 1944, durch eine deutsche V2ww2today.com

Zwar habe man auf Fotos auch Flugzeuge mit Streubomben entdeckt, es gebe auch russische Cruise Missiles mit Streubomben und somit die Möglichkeit, eine große Fläche mit Tod zu belegen. Allerdings: "600 Menschen - wo sind so viele Leute auf engem Raum?", meinen die Analysten. "Und selbst, wenn wirklich eine Ansammlung getroffen wird - wie soll man mit herkömmlichem battle damage assessment so einen bodycount zusammenbringen?"

Anders ausgedrückt: Wie will man, noch dazu beim Einsatz eines weit fliegenden Marschflugkörpers ohne Begleitung durch Aufklärer oder Spione am Boden, so eine hohe Opferzahl überhaupt ermitteln?

Der Todesbunker von Bagdad

Ganz ausgeschlossen ist so eine hohe Opferzahl bei einer Einzelaktion trotzdem nicht. Besonders schlimmes Beispiel: die Bombardierung eines zivilen Luftschutzbunkers im Bagdader Bezirk al-Amiriya im Februar 1991 durch zwei US-Tarnkappenbomber F-117 im Zweiten Golfkrieg 1990/91. Damals starben in dem Bunker, den die Amerikaner irrtümlich für eine militärische Kommandozentrale hielten, mindestens 408 Zivilisten durch nur zwei lasergelenkte "Betonknacker-Bomben" GBU-27 bzw. die Folgen der Explosionen: Die hatten nämlich auch einen großen Tank mit heißem Wasser darin aufgerissen.

Der Amiriya-Bunker in Bagdad ist bis heute eine Gedenkstätte
Der Amiriya-Bunker in Bagdad ist bis heute eine GedenkstättePaul Kitagaki Jr./Seattle Post

Wie dem auch sei: Bei Janes' Defence schätzte man zuletzt die Bodengewinne, die den syrischen Streitkräften seit Beginn der russischen Intervention gelangen, als sehr klein ein. Der Analyst Columb Strack sagt, dass seither nur 240 Quadratkilometer Boden aus dem Besitz sunnitischer Rebellen gewonnen worden seien (Vergleich Wien: 415 km2). Umgekehrt habe aber der IS etwa 120 km2 erobert. Netto betrug der Raumgewinn damit 0,06 Prozent (!) des syrischen Staatsgebietes.

Syrische Offensive gebrochen

Mit dem Beginn der Intervention und einer damit koordinierten syrischen Bodenoffensive seien die Geländegewinne der Regierung zwar deutlich gewachsen - im November sei aber eine deutliche Erschöpfung bemerkbar geworden und die Offensive habe sich totgelaufen. Damit werden Zweifel am weiteren Zusammenhalt der Regierungstruppen immer deutlicher.

Wie lange noch? Syrischer Panzersoldat in Damaskus
Wie lange noch? Syrischer Panzersoldat in Damaskusimago/ITAR-TASS

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