Spanien: Am Rand der Unregierbarkeit

Spaniens konservativer Ministerpräsident, Mariano Rajoy.
Spaniens konservativer Ministerpräsident, Mariano Rajoy.(c) REUTERS (MARCELO DEL POZO)
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Nach der Parlamentswahl schlittert das Land womöglich ins Chaos. Es zeichnet sich keine Koalition ab. Die Suche nach einer Regierung kann Monate dauern, am Ende könnten Neuwahlen stehen.

Madrid. Nach dem bitteren Sieg der Volkspartei unter Premier Mariano Rajoy und dem Triumph von zwei neuen Protestparteien droht Spanien ein monatelanges Patt bei den Koalitionsverhandlungen. Und die EU läuft Gefahr, nach Griechenland und Portugal mit dem viertgrößten Land der Eurozone einen weiteren Verbündeter der konsequenten Sparpolitik in Südeuropa zu verlieren. Die Neuverschuldung dürfte nach Einschätzung Brüssels auf knapp fünf Prozent zusteuern, das höchste Defizit in der Eurozone.

Die Überschriften in den spanischen Zeitungen nach der Parlamentswahl, die keinen klaren Sieger und keine Mehrheit brachte, aber ein Ende des Zweiparteiensystems, waren bezeichnend: „Ungewissheit“, „Instabilität“. Erstmals seit Ende der Franco-Diktatur 1975 gibt es in Spanien keine Aussicht auf eine stabile Regierung. In Madrid wackelt der Sessel des konservativen Ministerpräsidenten, Mariano Rajoy, und es beginnt das Feilschen um eine Koalition.

Angesichts der eher düsteren Perspektiven fiel die geplante Jubelfeier vor der konservativen Parteizentrale in der Hauptstadt aus. Rajoy ließ eine kleine Schar von Anhängern in der Wahlnacht ziemlich lang warten, bevor er dann doch auf den Balkon trat. „Wir haben eine schwierige Etappe vor uns“, sagte Rajoy. Aber er wolle trotzdem „versuchen, eine Regierung zu bilden“. Ein letztes, schwaches Winken, dann verschwand er wieder.

Ein Winken zum Abschied

„Es hat sich angehört, als ob sich Rajoy schon verabschieden wollte“, sagte ein Kommentator im Radiosender Ser. Rajoys konservative Volkspartei (PP) verlor ein Drittel ihrer Parlamentssitze, damit auch die absolute Mehrheit, und stürzte auf 28,7 Prozent ab. Damit behauptete sie sich noch als stärkste Partei. Aber zum Regieren reicht es nicht – und ein Partner ist nicht in Sicht.

Auch die zweite große Traditionspartei, die Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) mit ihrem Spitzenmann Pedro Sánchez, erlebte ein Debakel. Die Sozialdemokraten fielen auf schlappe 22 Prozent (2011: 29 Prozent) – das schlechteste Ergebnis der vergangenen 40 Jahre. Trotzdem werden Sánchez Chancen eingeräumt, eine Mitte-links-Koalition mehrerer Parteien anzuführen, weil sich eine knappe Mehrheit abzeichnet, die unter allen Umständen Rajoys Regierungszeit beenden möchte.

Die neue linksalternative Protestpartei Podemos (Wir können) könnte dabei eine entscheidende Rolle spielen. Sie darf sich als heimlicher Gewinner dieser Wahl fühlen. Die von Pablo Iglesias, dem 37-jährigen Politologen, angeführte Empörten-Bewegung, die aus den Straßenprotesten gegen Sparpolitik und Korruption entstand, kam auf Anhieb auf knapp 21 Prozent und somit auf Platz drei, dicht hinter den Sozialisten.

„Kein zweites Griechenland“

Podemos feierte eine Wahl-Fiesta. Parteichef Iglesias jubelte: „Heute ist ein neues Spanien geboren worden.“ Und: „Spanien hat sich für den Wechsel des Systems ausgesprochen.“ Er meint damit jenes Parteiensystem, in dem bisher Konservative und Sozialisten das Sagen hatten und sich alle paar Jahre an der Macht abwechselten. Jahrzehntelang hatten die beiden Traditionsparteien zusammen rund 80 Prozent der Stimmen hinter sich.

Die Neulinge, die Protestparteien Podemos und die liberale Plattform Ciudadanos (Bürger), werden bei der Machtverteilung jetzt kräftig mitmischen. Ciudadanos, die politisch noch am ehesten mit den Konservativen Berührungspunkte hat, will den durch Korruptionsskandale belasteten Rajoy nicht unterstützen. Die Bürgerplattform, die sich die „demokratische Erneuerung“ auf die Fahnen schrieb, kam aus dem Stand auf respektable 13,9 Prozent. Dies würde aber ohnehin nicht ausreichen, um Rajoy die absolute Mehrheit zu verschaffen. Zudem kündigte Ciudadanos an, sich beim Parlamentsvotum über den Premier enthalten zu wollen.

Ciudadanos-Chef Albert Rivera forderte derweil die Sozialisten auf, eine Regierung der Konservativen nicht zu blockieren. „Spanien darf nicht zulassen, dass es zu einem zweiten Griechenland wird. Wir dürfen kein chaotisches Land werden“, sagte er. Doch die Sozialisten lehnen eine Tolerierung Rajoys oder auch eine Große Koalition ab. Somit zeichnet sich als wahrscheinlichste Option ein Mitte-links-Pakt ab. Neben Sozialisten und Podemos müssten regionale Parteien mitmachen, etwa aus Katalonien – und die katalanischen Unabhängigkeitsparteien werden ihre Zustimmung sicher teuer verkaufen. Sollte der Preis für einen Linksruck zu hoch werden, sieht die Verfassung nur einen Ausweg vor: Neuwahlen.

Weitere Infos:www.diepresse.com/spanien-wahl

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2015)

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