Libanon: Zuerst war der Papa weg, dann das Haus

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Die siebenjährige Mariam ist aus Syrien geflohen. Warum ihr zweites Leben trotz aller Schicksalsschläge Hoffnung macht.

Beirut. Ob sie sich noch an den Krieg erinnern kann? „Ja“, antwortet Mariam. Dann sagt die kleine Syrerin mit den langen schwarzen Haaren nichts mehr. Sie spielt nervös mit den Händen. Der Blick wandert auf den Boden. Ihre Mutter, Izdahir, wird später erzählen, dass eine Bombe ihr Haus im syrischen Dorf Rable nahe Homs zerstört hat. Plünderer stiegen danach durch die Ruinen und nahmen die letzten Habseligkeiten mit. „Mariam weinte damals sehr viel. Eine Zeitlang versteckte sie sich immer. Ich fand sie dann zusammengekauert in einer Ecke“, sagt Izdahir.

Nun führt Mariam, sieben Jahre jung, in der Schule St. Vinzenz der Barmherzigen Schwestern im libanesischen Bergort Broumana schon ihr zweites Leben. Kindergelächter hallt durch den Hof. Statt Soldaten haben hier Klosterschwestern mit freundlicher Miene das Sagen. Der Krieg scheint weit weg. Doch die Bilder aus dem ersten Leben holen Mariam auch in diesem Idyll im Libanongebirge ein. „Sie war viel Gewalt ausgesetzt und muss nun mit ihren eigenen Aggressionen umgehen lernen“, sagt die Kinderpsychologin, die Mariam betreut. „Und sie ist ein ängstliches Mädchen. Diese Angst spiegelt sich auch in ihren Albträumen.“

Zumal sich das Kriegstrauma mit einem ganz persönlichen Schicksal vermengt: Noch bevor die ersten Bomben fielen, hatte der Vater die christliche Familie für eine andere Frau verlassen. Er sitzt nun wegen Drogenhandels in einem syrischen Gefängnis. 18 Jahre Haft. Zuerst war also der Papa weg, dann das Haus. Ganz schön viel für eine damals Dreieinhalbjährige.

„Hast du mich nicht mehr lieb?“

Mariam stellt ihrer Mama deshalb viele Fragen. Zum Beispiel dann, wenn sie gemeinsam ihren Großvater besuchen, der auch in den Libanon geflüchtet ist. „Du hast deinen Papa noch. Warum habe ich meinen nicht mehr?“

Eine Zeitlang fehlte Mariam auch die Mama. Zumindest nachts. Nach der Flucht in den Libanon hatte Izdahir für ihre Tochter einen Schulplatz gefunden, mit Internat: „Ich wollte, dass sie eine gute Ausbildung bekommt.“ Es funktionierte nicht. „Hast du mich nicht mehr lieb?“, habe ihre Tochter sie gefragt. Also der nächste Umzug, hier nach Broumana, wo die Barmherzigen Schwestern ihre Schule für 100 syrische Kinder geöffnet haben. Mariam lebt hier zwar auch im Internat, aber Mama Izdahir ist nur ein paar Türen weiter. Sie fand in der Klosterschule Arbeit. „Und am Wochenende darf Mariam bei mir schlafen.“ Es sagt viel über die Zustände im Libanon aus, dass Mariams Schicksal trotz all der Tragik zu jenen zählt, die Hoffnung machen. Kichernd tuschelt das Mädchen beim Mittagessen in ihrer blauen Schuluniform mit ihrer besten Freundin, Christiana, einer Libanesin, während draußen, hinter den Klostermauern, die Spannungen zwischen den 4,5 Millionen Einheimischen und bis zu zwei Millionen syrischen Flüchtlingen im überlasteten Libanon wachsen.

Am Nachmittag sitzt Mariam in einer Schulaufführung, in der sich libanesische, syrische und asiatische Kinder versichern, dass Herkunft keine Rolle spielt und Hand in Hand „Heal the World“ singen, während nur ein paar Dutzend Kilometer weiter in Syrien unvermindert der Krieg wütet, der eben auch entlang religiös-ethnischer Fronten geführt wird.

Und Mariam hat ein Dach über dem Kopf. Eine Decke mit Teddybärbildern liegt auf ihrem Bett im Klosterinternat, während hinter dem Libanongebirge, in der Bekaa-Hochebene, zigtausende Flüchtlingskinder auch in diesem Winter in informellen Zeltlagern frieren werden – bei bis zu minus 20 Grad.

Kinder ohne Kindheit

Aber vor allem hat Mariam in dieser von der Caritas Österreich unterstützten Schule eine Perspektive. „Naturwissenschaften ist mein Lieblingsfach“, sagt das Mädchen mit den kastanienbraunen Augen. „Ich will Ärztin werden.“ Ihren Berufswunsch tut sie dabei auf Französisch kund. „Mariam ist clever“, sagt eine ihrer Lehrerinnen. Ihr tut die Schule gut. Die Wahrheit ist: In ihrem syrischen Dorf hätte sie eine solche Ausbildung nicht bekommen.

300.000 von Mariams kleinen Landsleuten im Libanon, also zwei von drei Flüchtlingskindern, gehen nicht zur Schule. Dass die Ausbildungsstätten des Zedernstaats trotz Schichtbetriebs aus allen Nähten platzen, ist dabei nur ein Grund. Mitunter werden diese syrischen Kinder ohne Kindheit von ihren Eltern aus der Schule genommen, um zu arbeiten. Während sich also Mariam an diesem Nachmittag im Nachhilfeunterricht über einen Zettel mit Französisch-Aufgaben beugt, waschen sie Teller in Restaurants, putzen Lagerhallen – oder verkaufen Ramsch am Straßenrand. Nach dem Winter bestellen sie wieder die Felder.

Mitunter werden Mädchen, nur ein paar Jahre älter als Mariam, verheiratet. Sie dürfen dann nur noch Ehefrauen und Mütter, nicht mehr Kinder und Schülerinnen sein. So gesehen ist die kleine Syrerin Mariam mit den langen schwarzen Haaren der Ausreißer – einer verlorenen Generation.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2015)

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