Kein Ruf nach Verstärkung, Verschweigen der Herkunft von Verdächtigen – Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger wirft der Kölner Polizei gravierende Fehler vor.
Berlin. Abschieben. Das ist nach den Vorfällen in der Kölner Silvesternacht zu einem geflügelten Wort geworden. Während manche auf den Straßen fordern, ausländische Straftäter abzuschieben, geht es in der Politik um das Abschieben der Verantwortung. Die Gesundheitsministerin sei ja auch nicht für eine Blinddarmoperation zuständig, sagte Ralf Jäger (SPD), der Innenminister von Nordrhein-Westfalen. Und der massiv unter Druck geratene Politiker richtete seine Kritik direkt an die Kölner Polizei.
Jäger, der sich in einer Sondersitzung im Düsseldorfer Landtag vor der Opposition rechtfertigen musste, schoss sich auf die mangelnde Kommunikation zu Herkunft und Status der Tatverdächtigen ein, die in der Öffentlichkeit den Anschein erweckt habe, dass etwas vertuscht werden sollte. Vom Ministerium habe es keine Anweisung an die Kölner Polizei gegeben, etwas zu verschweigen. Im Gegenteil, sein Haus habe gefordert, lückenlos zu berichten.
In einem am Montag vorgestellten Bericht wurden dann auch die aktuellsten Daten zu den Vorkommnissen in der Silvesternacht präsentiert. So handelt es sich bei den bisher 19 ermittelten Verdächtigen allesamt um Nichtdeutsche. Zehn seien Asylbewerber. Sieben der Tatverdächtigen halten sich vermutlich illegal in Deutschland auf, zwei sind unbegleitete jugendliche Flüchtlinge. 14 der Männer stammen laut dem Bericht aus Marokko und Algerien. Vier sitzen in Untersuchungshaft. Dazu kommen weitere 31 Verdächtige, die die für die Bahnhöfe zuständige Bundespolizei bis Freitag registrierte – unter ihnen 18 Asylbewerber.
Auch am Einsatz selbst übte Jäger heftige Kritik. So hätte die Kölner Polizei auf zusätzliche Einsatzkräfte zurückgreifen müssen, die zur Verfügung gestanden wären. Allerdings wurde diese „angebotene und dringend benötigte Verstärkung für diese unerwartete Lageentwicklung“ nicht abgerufen – obwohl die Gruppe der Störenfriede auf etwa 1000 Personen angewachsen sei und unkontrolliert Feuerwerkskörper geworfen wurden. „Das Bild, das die Kölner Polizei in der Silvesternacht abgegeben hat“, fasste Jäger zusammen, „ist nicht akzeptabel.“
Angriffe auf Ausländer
Eine erste Konsequenz hatte er bereits am Freitag gezogen – er versetzte den Kölner Polizeipräsidenten Wolfgang Albers in den Ruhestand. Vor einer anderen Konsequenz warnte er aber – dass nämlich nun bestimmte Gruppen als Sexualstraftäter stigmatisiert werden könnten. Das sei falsch und gefährlich. Auch Deutschlands Justizminister Heiko Maas (SPD) warnte vor „pauschaler Hetze gegen Ausländer“. Dafür gebe es „keine Rechtfertigung“.
Doch es deutet einiges darauf hin, dass ausländerfeindliche politische Kräfte die Vorfälle von Silvester schon als Rechtfertigung für Gewalt verwenden. So attackierten am Sonntagabend mehrere Gewalttäter in der Kölner Innenstadt gruppenweise Menschen mit pakistanischer und syrischer Staatsangehörigkeit. Zwei der Angegriffenen wurden verletzt ins Krankenhaus gebracht. Es habe sich dabei eindeutig um „fremdenfeindliche Straftaten“ gehandelt, teilte die Polizei am Montag mit. Gezielt hätten sich Menschen über soziale Netzwerke verabredet, um auf augenscheinlich „nicht-deutsche Menschen“ loszugehen, wie Norbert Wagner von der Kölner Polizei sagte. Die Beteiligten seien zum Teil Rechtsextreme gewesen, zum Teil kämen sie aus der Hooligan-, Rocker- oder Türsteher-Szene.
Vor allem Muslime sehen sich nach den Übergriffen in der Silvesternacht als Zielscheibe: „Wir erleben eine neue Dimension des Hasses“, sagte Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime dem „Kölner Stadtanzeiger“. Als am Donnerstag bekannt wurde, dass es sich bei einigen mutmaßlichen Tätern um Asylwerber aus muslimischen Ländern handle, seien beim Islamverband 50 Drohanrufe sowie Hunderte Hassmails und -briefe eingegangen. Man habe inzwischen sogar die Telefonanlage abstellen müssen.
553 Strafanzeigen, 23 Verdächtige
Nach den massiven sexuellen Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht in Köln ist die Zahl der Strafanzeigen und der namentlich bekannten Verdächtigen weiter gestiegen. Mittlerweile bearbeite die Ermittlungsgruppe "Neujahr" 553 Anzeigen, teilte die Kölner Polizei am Montag mit. In etwa 45 Prozent der Fälle werde unter anderem wegen Sexualdelikten ermittelt.
Bisher lägen der Polizei in NRW Hinweise auf 23 namentlich bekannte Personen vor, die für Straftaten am und im Hauptbahnhof verantwortlich sein könnten. Mit Hilfe von Videoaufnehmen und Zeugenaussagen werde geklärt, ob ihnen konkrete Straftaten zugeordnet werden könnten. Zuletzt hatte die Kölner Polizei 516 Strafanzeigen und 19 namentlich bekannte Tatverdächtige gemeldet. Die Bundespolizei hat wiederum 32 Tatverdächtige identifiziert.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2016)