Die Rückkehr nach Kobane

Rückkehr nach Kobane
Rückkehr nach KobaneAPA/AFP (BULENT KILIC)
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Vor einem Jahr besiegten kurdische Kämpfer die IS-Extremisten bei Kobane. Mittlerweile regt sich wieder Leben in der verwüsteten syrischen Stadt. Doch ein Embargo durch die Türkei erschwert den Wiederaufbau.

Bashir will sich vom kalten Winterregen nicht unterkriegen lassen. Unverdrossen steht er neben seinem weißen Lieferwagen und wartet auf Käufer für sein Obst. Die großen Orangen, die der 50-jährige Kurde stolz auf der Ladefläche des Fahrzeugs in Plastikkisten aufgeschlichtet hat, stechen wie grelle Farbpunkte aus dem Grau des trüben Jännertags hervor. Niederschläge haben die Straßen in Schlammpisten verwandelt. Autos bahnen sich ihren Weg durch tiefe, mit braunem Wasser gefüllte Schlaglöcher.

„Wir haben hier während der Kämpfe durchgehalten. Dann werden wir es auch jetzt schaffen“, sagt Bashir und lächelt. Hinter seinem improvisierten Obststand erheben sich ausgebrannte Häuserzeilen. Sie stehen da wie gewaltigen Mahnmale für den Schrecken, der hier in der nordsyrischen Stadt Kobane gewütet hat. Vier Monate lang hatten die Extremisten des sogenannten Islamischen Staats (IS) mit aller Gewalt versucht, Kobane zu erobern. Sie rückten mit schwerer Artillerie, Kampfpanzern und modernen amerikanischen Humvee-Geländefahrzeugen an, die sie aus den Arsenalen der irakischen Armee erbeutet hatten. Doch die kurdischen Verteidiger gaben nicht auf. Meist nur mit Kalaschnikows, schweren MGs und alten Panzerabwehrrohren bewaffnet, verwickelten sie die Angreifer in erbitterte Straßenkämpfe. US-Kampfflugzeuge unterstützten die Kurden aus der Luft.

Wirkungsvolle Waffe gegen den IS

Vor einem Jahr, am 26. Jänner 2015, wurde der IS dann endgültig aus Kobane vertrieben. Der Ausgang der Schlacht war ein wichtiger Wendepunkt mit hohem symbolischen und strategischen Wert: Durch die Niederlage bei Kobane erhielt das Propagandabild vom IS-Milizionär als unbesiegbare Kampfmaschine tiefe Kratzer. Und den USA wurde klar, dass die YPG-Volksverteidigungseinheiten der syrischen Kurden eine wirkungsvolle Waffe gegen die Jihadisten darstellen. Zuvor sind die YPG nicht unterstützt worden, denn sie sind Verbündete der ursprünglich marxistischen kurdischen Untergrundorganisation PKK, die einen Guerillakrieg gegen den türkischen Staat führt.

Kobane zahlte für den Widerstand gegen den IS einen hohen Preis. 80 Prozent der Gebäude wurden zerstört. Doch jetzt, zwölf Monate später, kehrt langsam Leben in die Stadt zurück. Kinder in roten Anoraks stapfen durch die verregneten Straßen. Junge Männer brausen auf kleinen Motorrädern an ihnen vorbei. Im Erdgeschoß eines zerbombten Hauses haben eine Greißlerei und eine Fleischhauerei geöffnet. Während der obere Teil des Gebäudes noch aussieht, als hätte ein Titan ein Stück herausgebrochen, werden einen Stock darunter bereits allerlei Waren feilgeboten. Von kleinen Aluminiumvordächern über den Eingängen der Geschäfte baumeln Fleischhälften, Motorradersatzteile, blaue Wasserkannen und bunte Bälle für Kinder. Sie wurden dort mit einer trotzigen Selbstsicherheit aufgehängt, als sollten sie all der Zerstörung rund um sie Paroli bieten.

Tödliche Hinterlassenschaft

400.000 Menschen hatten vor dem Angriff des IS in der Stadt Kobane und dem Umland gelebt. Der Großteil der Zivilisten floh während der Kämpfe in die Türkei. Mittlerweile sind 200.000 von ihnen zurückgekehrt. Viele fanden nicht nur ihr einstiges Heim in Trümmern wieder. Sie stießen auch auf eine tödliche Hinterlassenschaft der Jihadisten. „Der IS hat vor seinem Rückzug zahlreiche Minen und Sprengfallen gelegt. Etwa fünfzig Zivilisten sind dadurch bereits ums Leben gekommen“, erzählt der stellvertretende Verteidigungsminister des Kantons Kobane, Öcalan Iso. „Auch 20 Minenräumer der Volksverteidigungseinheiten wurden getötet. Sie hatten für ihre Arbeit keine spezielle Ausrüstung. Sie haben die Minen einfach mit ihren Händen entschärft.“ Noch immer lauern in den Dörfern rund um die Stadt viele Sprengfallen, berichtet Öcalan Iso. „Nach wie vor sterben deshalb Zivilisten. Wir brauchen internationale Experten, die die Minen beseitigen.“

Der Vizeverteidigungsminister empfängt in seinem Büro im Verwaltungsgebäude von Kobane. An der Wand hängt ein Poster, das die gelbe Fahne der YPG-Volksverteidigungseinheiten zeigt und ein Konterfei Abdullah Öcalans, des in der Türkei inhaftierten ideologischen Anführers der PKK. Auf einem Feld vor dem Gebäude verrotten die Überreste der IS-Offensive: Drei alte russische T-62-Kampfpanzer stehen hier, bei zweien fehlt der Panzerturm. Zwanzig Meter davon entfernt liegt der zerfetzte Torso eines Humvee-Geländefahrzeugs.

Granatenangriffe

Seit seiner Vertreibung vor einem Jahr hat der IS immer wieder Granaten von der Front westlich der Stadt in Richtung Kobane abgefeuert. Im Juni gelang es IS-Kommandos, in Kobane und den umliegenden Dörfern Dutzende Zivilisten zu töten. „Bei Terroristen muss man natürlich immer auf alles gefasst sein. Aber so etwas würde jetzt nicht mehr gehen“, versichert Vizeverteidigungsminister Öcalan Iso. Die Kontrollposten der Asayish, der Truppen für innere Sicherheit, seien verstärkt worden. Und während die YPG-Volksverteidigungseinheiten und YPJ-Frauenverteidigungseinheiten an der Front kämpfen, hilft eine neue Heimatschutzmiliz bei der Kontrolle des Hinterlands. Diese Sicherungsmaßnahmen wurden auch nötig, weil das Gebiet, das die YPG einnehmen, ständig wächst. „Wir haben 10.000 Quadratkilometer vom IS zurückerobert“, sagt Öcalan Iso stolz. Vorwürfe – etwa von Amnesty International – die Kurden würden dabei arabische Zivilisten vertreiben, weist er zurück: „Wir machen das nicht. Bei der Verteidigung Kobanes fielen auf unserer Seite auch mehr als 30 Araber.“

Kobane
KobaneAPA/AFP (YASIN AKGUL)

Vormarsch in Richtung Raqqa

Gemeinsam mit verbündeten arabischen Milizen rücken die kurdischen Volksverteidigungseinheiten immer näher an die IS-Hauptstadt Raqqa heran. Demokratische Kräfte Syriens (SDF) heißt die neue, von den USA unterstützte kurdisch-arabische Allianz. Sie hat zuletzt den Tishrin-Staudamm südlich von Kobane eingenommen und damit eine wichtige Verbindungslinie des IS von Raqqa in Richtung Nordwesten unterbrochen. Westlich von Kobane steht das Bündnis vor der Stadt Jarabulus.

„Nur der Fluss Euphrat trennt uns dort von den letzten Grenzübergängen in die Türkei, die der IS noch besitzt“, berichtet Öcalan Iso. „Die türkische Armee beschießt uns dort aber immer wieder mit Granaten. Sie wollen nicht, dass wir weiter vorrücken.“ Erst am Freitag bekräftigte der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, dass er ein Überqueren des Euphrat durch syrisch-kurdische YPG-Kämpfer niemals zulassen werde. Die Regierung in Ankara hat mit Unmut beobachtet, wie die Verbündeten der PKK immer weitere Teile Nordsyriens unter ihre Kontrolle bekommen haben. Nach der erfolgreichen Verteidigung Kobanes vertrieben die kurdischen Einheiten im Juni 2015 den IS aus der Stadt Tal Abyad. Der IS verlor damit seinen wichtigsten Grenzübergang in die Türkei. Und Syriens Kurden konnten damit den bisher abgeschnittenen Kanton Kobane mit dem Kanton Cizre im Osten des Landes verbinden.

In den Selbstverwaltungsgremien der Kantone sitzen Kurden und Araber, Muslime und Christen. Das de facto autonome Gebiet soll offiziell nicht nur den Kurden, sondern auch allen anderen Bevölkerungsgruppen gehören.
Überwacht wird dieses Projekt freilich von der syrischen PKK-Schwesterbewegung Partei der Demokratischen Union und den Volksverteidigungseinheiten. Sie verehren den auf der türkischen Insel ?mralı inhaftierten PKK-Gründer Öcalan als ideologischen Anführer. Der türkischen Regierung ist das Autonomieexperiment im Norden Syriens ein Dorn im Auge. Sie hat ein Embargo gegen das Gebiet verhängt und die Grenze nach Kobane weitgehend dicht gemacht.

Fahrt durch einstige IS-Hochburg

Eine Reise in die Stadt gestaltet sich daher schwierig. Sie führt von Iraks Kurdenregion per Fähre über den Grenzfluss Tigris nach Syrien. Dann geht es nach Qamishli und weiter nach Tal Abyad, wo noch vor einem halben Jahr der IS geherrscht hat. Frauen in bunten Kopftüchern und junge Männer in Jeans spazieren durch die Straßen Tal Abyads. Aus einem Auto tönt laute Musik. Alte Männer in arabischer Tracht rauchen in einer Teestube Zigaretten. Sie alle wären dafür früher von den IS-Sittenwächtern, die bis Juni in Tal Abyad ein brutales Regiment geführt hatten, schwer bestraft worden. Sobald es dunkel wird, will der Fahrer hier nicht mehr unterwegs sein. Untergetauchte IS-Kämpfer versuchen bei Tal Abyad immer wieder, im Schutz der Finsternis an der Straße Sprengfallen zu legen, sagt er. Nach eineinhalb Tagen Fahrt ist Kobane endlich erreicht.

Auch Khaton Ali ist nach Kobane zurückgekehrt. Seit einigen Minuten erst hat die 58-jährige Frau mit dem langen weißen Kopftuch wieder den Boden ihrer Heimatstadt unter ihren Füßen. „Wir sind im September 2014 vor dem IS ins türkische Urfa geflohen. Jetzt sind wir zurück“, erzählt sie, während eine Grenzbeamtin des Kantons Kobane ihr Gepäck überprüft. „Wir lebten in einem Dorf außerhalb Kobanes. Ich hoffe, mein Haus ist unversehrt“, sagt Khaton Ali und atmet tief durch. „So Gott will, werden wir irgendwann wieder ein besseres Leben haben.“

Die 58-Jährige gehört zu den Personen, die über die Türkei nach Kobane einreisen dürfen. Nur zwei Mal in der Woche, am Montag und am Donnerstag, öffnet sich das weiße Metalltor am Grenzübergang für einige Stunden. Dann können Flüchtlinge wie Khaton Ali passieren, um aus der Türkei in den Norden Syriens zurückzukehren. „Heute sind bisher 500 Personen gekommen“, berichtet Merwan Hemo. Der 30-jährige Kurde ist Chef der Sicherheitskräfte am Grenzposten in Kobane. Die türkischen Beamten ließen nur Flüchtlinge in Richtung Kobane passieren. Ansonsten sei die Grenze für den Personenverkehr gesperrt, erzählt er. „Einreisen lassen die Türken hier niemanden.“ Und auch der Transport von Gütern wird weitgehend blockiert. „Nur Obst und Früchte dürfen nach Kobane geliefert werden. Alles andere hat die Türkei verboten“, schildert Merwan Hemo. „Gestern wollten 125 Lkw nach Kobane, die türkischen Beamten haben nur 25 durchgelassen.“

Das türkische Embargo bringt auch Probleme für den Wiederaufbau der Stadt. Denn seit der Konflikt zwischen der türkischen Regierung und der PKK wieder aufgeflammt ist, lassen die türkischen Grenzbeamten den so dringend benötigten Zement nicht mehr durch. „Wir haben zwar geheime Wege, um Baumaterial nach Kobane zu bekommen“, sagt ein Mitglied der Stadtverwaltung. „Aber dadurch erhöhen sich die Kosten dafür.“

Hawjin Aziz will sich trotzdem nicht entmutigen lassen. Die Kurdin hat in Australien Politikwissenschaft studiert und ist nun in Kobane, um zu helfen. „Widerstand ist nicht nur eine militärische Angelegenheit. Widerstand bedeutet auch einen gesellschaftlichen Kampf, und dazu gehört Wiederaufbau“, sagt die junge Frau, die für den Kobane Reconstruction Board arbeitet. „Noch vor einem Jahr waren die Straßen wegen der Zerstörungen unpassierbar. Mittlerweile haben wir aber zwei Millionen Tonnen Schutt weggeräumt. Sieben von 15 zerstörten Schulen wurden wieder aufgebaut“, sagt Hawjin Aziz stolz. Und sie hofft, dass mit der Einnahme des Tishrin-Staudamms durch die YPG Kobane demnächst wieder von außen mit Elektrizität versorgt werden kann. Derzeit gibt es in der Stadt nur acht Stunden Strom am Tag. Er kommt aus Dieselgeneratoren. Um zu sparen, werden sie in der Nacht abgeschaltet. Dann funktionieren die Heizstrahler in den Häusern nicht mehr. Die Nächte sind kalt in Kobane.

Bunte Wäsche auf Ruinen. Nach einigen Tagen Regen wagt sich über den Ruinen von Kobane wieder die Sonne hervor. Im Obergeschoß eines zerstörten Hauses hängt bunte Wäsche zum Trocknen. Und Obsthändler Bashir ist wieder auf der Straße und bietet seine großen Orangen an.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.01.2016)

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