Für Moskau ist das Leben wieder in Ordnung

(c) Reuters (Denis Sinyakov)
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Der bevorstehende Besuch Präsident Obamas markiert eine Wende in der amerikanischen Außenpolitik. Russland spielt eine größere Rolle als zuvor – aber nicht, weil es so mächtig wäre, sondern als nützliches Werkzeug.

Der erste ausführliche Staatsbesuch eines US-Präsidenten in Moskau seit sieben Jahren findet vor dem Hintergrund offensichtlich gesunkener Erwartungen statt. Man hat den Eindruck, dass Moskau bereits das Maximum des Möglichen von Washington bekommen hat und jetzt auf „Halten“ spielt. Ein solcher Ansatz bei den Beziehungen mit den USA bestätigt die Beschränktheit der russischen Außenpolitik, ihre Verbundenheit mit den Überlieferungen der Vergangenheit und ihre Unbeweglichkeit in allem, was die Zukunft betrifft – sei es des Landes oder der Welt.

Tatsächlich kann man die russische Tagesordnung für die Außenpolitik den Amerikanern gegenüber auf drei Positionen zurückführen: Haltet euch aus unseren Angelegenheiten (d.h. aus der GUS) heraus; baut keine globalen Raketenabwehrsysteme auf (erst recht nicht vor unserer Nase); und achtet unseren Großmachtstatus. Der Konflikt bezüglich dieser Positionen im Sommer und Herbst vorigen Jahres setzte die russisch-amerikanischen Beziehungen zurück in die Zeiten von Andropow und Reagan. Im Kaukasus wurde ein amerikanischer Satellitenstaat „geschlagen“, und man drohte damit, in Kaliningrad taktische Boden-Boden-Raketen des Typs Iskander aufzustellen. Anstelle von Achtung machte sich tiefes gegenseitiges Misstrauen breit.

Doch dann klärte die Kombination zweier Faktoren – der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise und des Einzugs der Demokraten unter der Führung von Barack Obama ins Weiße Haus – auf wundersame Weise die Situation. Im Kreml war man sich dessen nicht sofort bewusst – so ließ man sich demonstrativ Zeit damit, Obama zum Wahlsieg zu gratulieren –, aber als man sich schließlich bewusst wurde, war klar, dass die Probleme wenn auch nicht ganz verschwunden waren, so doch an Aktualität verloren hatten. Georgien hörte von einem Augenblick zum anderen auf, ein „Leuchtturm der Freiheit und Demokratie“ zu sein, Saakaschwili wurde in Washington nicht mehr empfangen. Die georgischen und ukrainischen Anträge auf einen NATO-Beitritt wurden vom Fast Track genommen und auf die lange Bank geschoben. Die Umsetzung des Raketenabwehrprogramms, einschließlich seiner mitteleuropäischen Komponente, wurde gebremst. Außerdem wurden Beratungen über eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Raketenabwehr begonnen und – nach einer 15-jährigen Unterbrechung – „echte“ Verhandlungen bezüglich strategischer Angriffswaffen wieder aufgenommen. Moskau erhielt erneut die Möglichkeit, gestützt auf den „Vertragsgegenstand“ Atomraketen, Washington direkt in die Augen zu sehen und ihm so verstehen zu geben: Ein solches Land nicht zu respektieren ist unmöglich, weil gefährlich. Also alles in allem: Das Leben ist wieder in Ordnung.


Weißes Haus stellt Weichen neu. Allgemein hält man die aufgezählten Veränderungen für ein Resultat des „Neustarts“ der russisch-amerikanischen Beziehungen, den Außenministerin Clinton und Außenminister Lawrow bei ihrem Treffen im März in Genf symbolisch durch das gemeinsame Drücken des bekannten roten Knopfes ausdrückten. Tatsächlich hat Genf nichts mit der Sache zu tun. Das Reset wurde im Weißen Haus initiiert und betraf nicht nur konkret Russland, sondern die Außenpolitik der USA allgemein. Russland trat unerwartet für viele in den Vordergrund, aber nicht, weil es wichtig wäre, sondern eher im Gegenteil. Für die Regierung Obama, die sich auf den Nahen und Mittleren Osten konzentriert, galt – und gilt zum Teil auch heute noch – Russland als ein nützliches Werkzeug, das Amerika bei der Erreichung seiner wichtigsten Ziele helfen könnte: bei der Zerstörung der al-Qaida, der Auflösung des afghanisch-pakistanischen Knotens, der Lösung des Problems Iran, der Erzielung einer Regelung für den israelisch-palästinensischen Konflikt sowie bei der Zügelung von Nordkorea.

Andererseits braucht Obama im Gegensatz zu Bush keine Kompensation für seine Misserfolge im Irak in Form einer Unterstützung für die „bunten Demokratien“ – der Form nach demonstrativ und ohne Inhalt –, auch kümmert ihn nicht die Erweiterung der NATO nach Osteuropa, sondern die Steigerung der Effizienz der Operationen der Allianz in Afghanistan, das bereits „sein“ Krieg ist; und seine Einstellung zum Raketenabwehrprogramm enthält einen Anteil gesunder Skepsis. Obama braucht keine „Märchen von Großvater Reagan“ über den „Krieg der Sterne“, sondern echte Fähigkeiten zur Lösung konkreter Aufgaben. Schließlich unterstützte Obama die Idee einer stufenweisen Abschaffung der Atomwaffen. Den neuen Abrüstungsvertrag sieht er als ersten Schritt auf einem langen und schwierigen Weg. Daher also das Reset.


Wenig Einfluss im Iran. Nun fährt Obama hauptsächlich deswegen nach Moskau, um sich die Unterstützung der russischen Seite in den iranisch-afghanischen Angelegenheiten zu sichern. In Moskau könnte man ihm eine (sowohl mengen- als auch qualitätsmäßige) Erweiterung des Frachtentransits nach Afghanistan über russisches Territorium, Zusammenarbeit im Kampf gegen den Drogentransport sowie eine engere Zusammenarbeit bezüglich des Irans vorschlagen. Das alles ist wichtig, hat aber wohl kaum entscheidende Bedeutung für den Erfolg der amerikanischen Politik. Was Afghanistan betrifft, verfügt Russland über starre materielle und psychologische Beschränkungen. Seine derzeitigen Ressourcen sind niedriger als die, über die Moskau 2001 verfügte. Die Situation im Iran ist nach den Wahlen am 12. Juni und den darauffolgenden Massenunruhen jäh schwieriger geworden. Der Einfluss Russlands im Iran ist jedenfalls nicht groß. Seine wichtigsten Trümpfe sind die Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat und die Möglichkeit, im Falle neuer Verschärfungen des amerikanisch-europäischen Verhältnisses zum Iran als Moderator aufzutreten. Das ist zwar wichtig, aber von zweitrangiger Bedeutung.


Geopolitische Tauschgeschäfte. Moskau seinerseits wird versuchen, Obama dazu zu bringen, die Positionen zu festigen, die Russland ins Konzept passen. In erster Linie betrifft das Georgien, die weitere Erweiterung der NATO Richtung Osten und die Raketenabwehranlagen in Polen und Tschechien. Als ob nicht bereits sechzig Jahre vergangen wären, spricht man in den Couloirs über geopolitische Tauschgeschäfte: Iran gegen Ukraine, Kosovo gegen Abchasien und Südossetien usw. Man schlägt einen neuen Vertrag zur Sicherheit in Europa vor, in dem Moskau nur ein Punkt interessiert, der ungefähr so lautet: „Keine der existierenden militärisch-politischen Unionen in Europa wird ihre Mitgliederanzahl ohne Zustimmung der anderen Unterzeichner dieses Vertrags erhöhen.“ Es ist klar, dass ein solcher Vertrag nicht unterzeichnet werden kann. Es ist auch klar, dass eine „juristisch verbindliche“ Fixierung der derzeitigen Moskau genehmen Position Washingtons nicht gelingen wird. Unter bestimmten Umständen können sich sowohl Georgien als auch die Ukraine und die Raketenabwehranlagen wieder bemerkbar machen.

Das einzige reale Ergebnis des Moskauer Treffens könnte ein Abkommen über die Parameter des neuen Abrüstungsvertrags werden. Das ist zwar gut, aber es reicht nicht. Die Regelung der militärisch-strategischen Gegensätze unter den Bedingungen einer Beendigung der politisch-ideologischen Konfrontation ist eine wichtige, wenn auch notgedrungene Arbeit, aber sie wird die Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und den USA nicht aus dem engen Gehäuse führen, in das sie vor sechzig Jahren gelangten. Was notwendig ist, ist ein Durchbruch. Ein solcher Durchbruch könnte ein prinzipielles Abkommen über die Schaffung eines gemeinsamen Raketenabwehrsystems in Europa sein. Das derzeitige Fehlen gegenseitigen Vertrauens muss ein Argument für und nicht gegen die Zusammenarbeit in einem solch heiklen Bereich sein. Die Amerikaner müssen die russischen Strategen de facto überzeugen, dass es keine „geheime Tagesordnung“ gibt, die aus einem einzigen Punkt besteht: „Zerstöre Russland!“. (Die russische Paranoia diesbezüglich hat sich in der „Strategie der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation bis 2020“, die am 13. Mai dieses Jahres angenommen wurde, manifestiert).


Doppelte Paranoia. In der europäischen Richtung der Außenpolitik sollte Russland die Versuche aufgeben, den „Geist von Helsinki“ in Form eines Pakts zwischen der NATO und der OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) mit einer fixierten Neutralität der Ukraine, Georgiens und anderer wiederauferstehen zu lassen, sollte direkt mit seinen Nachbarn zusammenarbeiten und nicht mit den USA, Deutschland und Frankreich über die Köpfe der anderen hinweg. Die europäische Sicherheit wird derzeit von zwei paranoiden Ideen geschwächt: der russischen bezüglich der Machenschaften des „hinterhältigen Amerika“; und der Nachbarn Russlands bezüglich des „revanchistischen Kreml“. Die erste Paranoia muss Washington behandeln, die zweite Moskau. Diese Arbeit erfordert Achtung für die „Kleinen“, die Berücksichtigung ihrer Interessen, ihrer psychologischen Verletzungen und vieles andere mehr, was Russland von den USA fordert, aber in seinem eigenen Umgang mit den „Grenzstaaten“ nicht für notwendig hält. Man muss sich ein für alle Male klarmachen: Die Ukraine, Georgien, Weißrussland, Moldawien und alle anderen (einschließlich dem Irak, Iran, Afghanistan) treffen ihre eigenen Entscheidungen. Das große Spiel ist vorbei. Eine Großmacht ist heutzutage nicht die, die jemand anderem etwas aufzwingen kann, sondern die, die Anziehung ausübt und anlockt – nicht ein Hegemon, sondern ein Leader.

Die Hauptsache ist aber etwas ganz anderes. Im 21.Jahrhundert ist die wichtigste Aufgabe Russlands die allseitige Modernisierung des Landes. Ohne diese sind alle Anstrengungen, Russlands Status in einer monopolaren Welt zu heben, zum Scheitern verurteilt. Zusammen mit Europa sind die USA der naheliegende Partner für eine Modernisierung Russlands: eine technologische und wirtschaftliche genauso wie eine soziokulturelle. Eine andere wichtige Aufgabe ist die Gewährleistung der Sicherheit, von der atomaren bis zur klimatischen. Diese Aufgabe kann ebenfalls nicht ohne enge Zusammenarbeit mit den USA gelöst werden. Doch statt Zusammenarbeit sehen wir ein hartnäckiges „Köpfezusammenstoßen“ wegen der Probleme der Vergangenheit. Man möchte sagen: Meine Herren, wir haben nicht mehr das XIX. Jahrhundert. Stellen Sie das I hinter die X.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2009)

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