Afghanistan: "Rückführungen sind keine Lösung"

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Der Truppenabzug des Westens sei ein Zeichen des Scheiterns, so Experte Monsutti. Solange Afghanen in ihrer Heimat keine Perspektive hätten, würden sie nach Europa fliehen.

Die Presse: Anfang Februar sagte der deutsche Innenminister, Thomas de Maizière, junge Afghanen, die ihr Land verließen, verrieten Afghanistan. Finden Sie das auch?

Alessandro Monsutti: Diese Behauptung ist bizarr. Die internationale Gemeinschaft hat seit der US-Intervention 2001 viel Geld in Afghanistan investiert, aber die Ergebnisse sind enttäuschend. Dafür ist teils die afghanische Regierung, teils das Ausland verantwortlich. Wenn der Westen nicht fähig war, das Land wiederaufzubauen, wie sollen Afghanen es mit noch weniger Geld schaffen?

Warum flüchten derzeit so viele Afghanen – aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen?

Diese Unterscheidung ist zu hinterfragen. Afghanistan ist im Krieg– heute mehr als vor zehn Jahren. Armut und Gewalt nähren sich gegenseitig.

Hatte das Ende der Nato-Mission 2014 keine Wirtschaftsfolgen?

Doch. Als ein Großteil der Soldaten und NGOs das Land verließen, verloren viele ihre Jobs. Heute fürchten sie die Vergeltung ihrer Landsmänner – aus Rache, mit Besatzern kollaboriert zu haben, und Neid auf ihr Geld. Dennoch kann die Arbeitsmarktkrise nicht vom politischen Konflikt getrennt werden.

Warum nehmen Afghanen den Weg nach Europa auf sich, wenn sie auch in Nachbarstaaten fliehen könnten?

Sie können es eben nicht mehr. In den 1980er-Jahren bezahlte der Westen Pakistan, im Kampf gegen die Sowjetunion Afghanen aufzunehmen. Heute hat Pakistan keine geopolitischen Gründe mehr. Im Iran war es ähnlich: Das Land war international isoliert, es brauchte afghanische Arbeiter und Kämpfer. Heute sind Afghanen nicht mehr willkommen. Sie müssen sich neue Zielländer suchen.

Es wird argumentiert, dass abgelehnte Asylwerber in einige sichere Gebiete in Afghanistan zurückgeschickt werden könnten.

Manche Gegenden sind sicherer als andere. Aber wenn die Taliban jemanden töten wollen, töten sie ihn – egal wo. Es geht auch um eine Lebensgrundlage. Selbst in sicheren Gegenden würden Menschen ohne Rückhalt verhungern.

Ist es also unverantwortlich, Afghanen zurückzuschicken?

Rückführungen sind keine Lösung, um Geld zu sparen. Die meisten, die zurückgeschickt werden, kommen wieder, solange sie in ihrem Land keine Perspektive haben. Ganze Familien sparen, um einem Verwandten die Flucht zu ermöglichen. Wird er rückgeführt, verlieren sie ihr Gesicht und zwingen ihn zur Umkehr. Auch für Aufnahmestaaten sind Rückführungen teuer.

Afghanen sind seit Langem die größte Gruppe von Asylwerbern in Österreich. Warum?

Erstens aus geografischen Gründen. Flüchtlinge müssen durch Österreich auf dem Weg nach Norden. Zweitens gibt es eine Art Zielländer-Ranking. Wer in Griechenland Asyl bekommt, gilt nicht als erfolgreicher Flüchtling. Österreich erscheint wegen der Bildungs- und Integrationschancen verlockend.

Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich 2015 verschlechtert. Wird die für heuer geplante Reduzierung der US-Truppen die Region weiter destabilisieren?

Ein Truppenabzug des Westens hat nichts damit zu tun, dass Afghanistan friedlicher wird. Es ist mehr ein Zeichen des Scheiterns als des Erfolgs. Die Indikatoren sprechen für sich: mehr Tote, mehr Angriffe, weniger Arbeitsplätze. Es gibt keine Zeichen der Änderung. Ob 100.000 oder 10.000 Soldaten, ist irrelevant. Vielleicht hat Washington verstanden, dass die Taliban nicht militärisch besiegt werden können.

Hängt die jüngste Destabilisierung mit dem Ende der Nato-Mission zusammen?

Der Abzug war nicht der Auslöser für die Verschlechterung, sondern ein Zeichen für Afghanen, dass der Westen sie aufgegeben hat. Es geht schon seit 2005 bergab.

US-Außenminister John Kerry nennt als Besserungsbeweis, dass mehr Kinder zur Schule gehen als 2001 – darunter 40 Prozent Mädchen.

Das ist Zahlenschönung. Sicher gehen faktisch mehr Kinder zur Schule. Aber was heißt das? Sinnlose Schulbildung ohne Perspektive auf dem Arbeitsmarkt ist keine Lösung.

Sie haben bis jetzt nur internationale Verfehlungen angesprochen. Was kann die afghanische Regierung tun, um die Lage im Land zu verbessern?

Was soll ich sagen? Bei der Zusammenarbeit mit Kabul ist Korruption ein großes Problem. Dennoch ist es keine Lösung, die Regierung zu umgehen. Wenn ein Staat nicht durch seine Bürger, sondern durch ausländische Mittel finanziert wird, wie kann er Legitimität aufbauen?

ZUR PERSON

Alessandro Monsutti ist wissenschaftlicher Direktor für Migrationsstudien am Graduate Institute of International and Development Studies in Genf. Er nimmt heute, Montag, am Politischen Salon des IWM in Partnerschaft mit der „Presse“ teil. [ GIG ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.02.2016)

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