Für die Massenflucht über die Grenze nach Mazedonien macht der griechische Premier indirekt NGOs verantwortlich. Und spricht erstmals von "geschlossener Balkanroute".
Athen. Verwirrung herrschte am Dienstag in Griechenland, einen Tag, nachdem etwa tausend Flüchtlinge die Grenze zu Mazedonien illegal überschritten hatten. Denn während internationale Medien zunächst die Rückkehr nahezu aller Flüchtlinge nach Griechenland meldeten, war von der griechischen Polizei das Gegenteil zu hören. Lediglich von 200 war die Rede. Schließlich bestätigte das auch die mazedonische Nachrichtenagentur: Nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge habe das Land verlassen, über das Schicksal der anderen werde noch mit Athen verhandelt.
Insgesamt war der Vorfall für die griechische Regierung höchst unangenehm. Von der Opposition musste sie sich vorwerfen lassen, dass der Staat sich an seiner Nordgrenze verabschiedet habe und mit der Situation völlig überfordert sei. Andererseits musste die Regierung Medienberichte dementieren, denen zufolge Griechenland die Lage im provisorischen Flüchtlingslager in Idomeni, an der mazedonischen Grenze, absichtlich eskalieren lasse, um vor dem EU-Flüchtlingsgipfel in Brüssel am 17. März Stimmung zu machen. Etwa 12.000 sitzen hier fest, nach tagelangen Regenfällen versinkt das Zeltlager in Schlamm und Matsch.
Wer steckt hinter Flugblättern?
Erst Montagfrüh waren drei Afghanen ertrunken, die über den Grenzfluss Mazedonien erreichen wollten. Mazedonische Sicherheitsbeamte retteten 20 weitere Flüchtlinge. Der große Sturm auf die Grenze folgte zu Mittag, als über tausend Flüchtlinge, unter ihnen viele Frauen, Kinder, behinderte Menschen, von Idomeni aus den Marsch Richtung Grenze antraten. Griechische Polizisten stellten sich ihnen in den Weg, wurden aber von der Menschenmasse beiseitegeschoben. Die Erklärung von Bürgerschutzminister Nikos Toskas: „Es handelte sich vor allem um Frauen und Kinder. Wir konnten daher keine Gewalt anwenden.“
Die Bilder von der Überquerung eines reißenden Sturzbaches gingen um die Welt. Motiviert wurden die Menschen offenbar von einem Flugblatt in arabischer Sprache, darauf wurden die Flüchtlinge zur Massenflucht Richtung Grenze aufgerufen. Beigelegt war ein Plan der Gegend. Unterzeichnet war das Schreiben mit „Kommando Norbert Blüm“. Wer hinter dem Schreiben steckt, war gestern noch unklar. Der deutsche Ex-Arbeitsminister Norbert Blüm jedenfalls, der am Wochenende Idomeni besucht hatte, dementierte jede Verwicklung.
Gestern besuchte EU-Immigrationskommissar Dimitris Avramopoulos das Flüchtlingslager Idomeni. Er rief zur Umsetzung des europäischen Programms zur Umsiedlung der syrischen Flüchtlinge in die EU-Länder auf. Anwesend war auch Kyriakos Mitsotakis, Chef der konservativen griechischen Opposition. Er rief die Regierung auf, das Lager endlich zu räumen.
Auch Premier Alexis Tsipras meldete sich zu Wort: Einerseits äußerte er sich vorsichtig über Mazedonien: Er verlor kein Wort über die Absperrung der Grenze. Dafür geißelte er wieder „die Alleingänge europäischer Partner“, womit er vor allem Österreich meinte. Allerdings betonte er, dass man bewusst kein staatliches Flüchtlingslager an der Grenze zu Mazedonien hatte errichten lassen, „um nicht ein europäisches Problem zu einem bilateralen Problem werden zu lassen“.
Tsipras sprach aber auch von dem „verbrecherischen Verhalten von manchen, die unter dem Schutzmantel einer Hilfsorganisation Falschmeldungen über angebliche Flüchtlingsrouten verbreiten“. Indirekt deutete er an, dass Hilfsorganisationen für die Massenflucht verantwortlich gewesen seien. Schließlich appellierte er an Flüchtlinge, in die offiziellen Lager umzusiedeln, „da die Balkanroute geschlossen ist“. Das war das erste Mal, dass der Premier die Schließung als Faktum anerkannte.
AUF EINEN BLICK
Flugblätter in arabischer Sprache haben den Exodus Hunderter Flüchtlinge aus dem Zeltlager Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze ausgelöst. Darauf wurde beschrieben, wie die mazedonischen Grenzanlagen umgangen werden können, auch anhand einer gezeichneten Skizze. Wer in Griechenland bleibe, werde vermutlich in die Türkei abgeschoben. Wer sie verfasst hatte, blieb vorerst unbekannt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.03.2016)