Jordanien: Die Kriegskinder von Amman

Ibrahim, 13, und sein Bruder, 12, in Amman: Der eine will Pilot werden, der andere eifert einem weiteren Bruder nach, der bereits im Textilladen Hilfsarbeiten verrichtet. Zur Schule gehen beide nicht, Jordanier hätten sie dort gemobbt, sagt Ibrahim.
Ibrahim, 13, und sein Bruder, 12, in Amman: Der eine will Pilot werden, der andere eifert einem weiteren Bruder nach, der bereits im Textilladen Hilfsarbeiten verrichtet. Zur Schule gehen beide nicht, Jordanier hätten sie dort gemobbt, sagt Ibrahim.Jürgen Streihammer
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Im überfüllten Königreich Jordanien wächst eine verlorene Generation heran. Doch es gibt auch Hoffnung, manchmal dort, wo man sie am wenigsten erwartet. Ein Treffen mit kleinen Flüchtlingen in der Hauptstadt.

In einer kleinen Wohnung in Amman, der pulsierenden Hauptstadt Jordaniens, sitzt Yusuf auf einer Matratze und schnauft. Der 15-Jährige ist soeben heimgelaufen. Von der Arbeit. Eine Schule hat Yusuf seit Jahren nicht mehr von innen gesehen, genauso wenig wie seine drei Brüder, die neben ihm tuscheln. Und zwei Schwestern sind längst in Europa. Die Chancen nun, dass Yusuf jemals wieder in einem Klassenzimmer sitzt, tendieren gegen null. Warum er nicht zur Schule geht? Der pausbäckige Jugendliche bringt noch ein „Ich weiß es nicht“ heraus. Dann wandert der Blick auf den Boden und er zupft schweigend an dem Trainingsanzug herum, den er wohl in dem nahen Textilladen zum Mitarbeiterpreis erstanden hat, in dem er nun die Kleider sortiert.

Hinter den Wänden der sandfarbenen Kalksteinbauten, die sich auf die Hügel Ammans betten und das Stadtbild prägen, wächst eine verlorene Generation heran. Die syrischen Kinder verkaufen in Amman Ramsch, lackieren Autos, waschen Teller ab, sortieren Kleider. Der Krieg, der rund 70 Kilometer weiter nördlich, hinter der jordanischen Steinwüste, wütet, hat ihnen die Kindheit, die Unbekümmertheit gestohlen, und nun ist er dabei, ihnen auch noch die Zukunft zu rauben. 75.000 syrische Kinder in Jordanien gehen nicht zur Schule. Mindestens.Das schadet den Kindern – aber auch den Jordaniern, die in diesem überfüllten Königreich immer lauter darüber murren, dass ihnen die kleinen und großen Syrer die Jobs stehlen oder zumindest die Löhne drücken.

Yusuf (rechts) und sein Bruder verrichten Kinderarbeit in Amman. Eine Schule haben die beiden Syrer seit Jahren nicht von innen gesehen.
Yusuf (rechts) und sein Bruder verrichten Kinderarbeit in Amman. Eine Schule haben die beiden Syrer seit Jahren nicht von innen gesehen.(c) Streihammer

Doch es gibt auch Hoffnung, manchmal dort, wo man sie am wenigsten erwartet. Die Vollwaisen. „Ich bin so stolz auf ihn“, sagt die ältere Frau mit dem schwarzen Kopftuch und wirft dem elfjährigen Tariq einen liebevoll-wissenden Blick zu, wie ihn Großmütter gern aufsetzen. Tariq sei ein „so guter Schüler“, sagt sie. Dann bricht die Stimme der Frau für einen Moment, mit Tränen in den Augen erzählt sie von dem einen Tag in ihrer Heimat, dem syrischen Daraa, der sie und die Familie bis heute nicht loslässt. „Es gab einen Angriff. Wir versteckten uns alle im Keller.“ Nur Tariqs Eltern waren draußen. Der Bub und seine vier Geschwister sind seither Vollwaisen. „Es vergeht kein Tag, an dem die Kinder nicht von ihren Eltern reden“, sagt die Großmutter, die nun fremde Wohnungen in Amman putzt, um das Geld für den Transport ihrer Enkel in die Schule zusammenzukratzen.

Vier Vollwaisen in Amman. Die Eltern starben bei einem Bombenangriff in Deraa. Nun kümmert sich die Großmutter um die Kinder.
Vier Vollwaisen in Amman. Die Eltern starben bei einem Bombenangriff in Deraa. Nun kümmert sich die Großmutter um die Kinder.(c) Jürgen Streihammer

Allzu oft scheitert der Schulbesuch an den Fahrtkosten. Manchmal reißt Kinderarbeit die Kleinen aus der Ausbildung, weil die Familie im Jahr sechs des Syrien-Kriegs vor der Pleite steht, das Ersparte verbraucht ist. Andere Kinder sind nun „Illegale“, weil es die Eltern nicht mehr in Flüchtlingslagern aushalten und verbotenerweise als U-Boote in die Stadt ziehen. Und vor allem reicht der Platz in den Schulen nicht für alle.

Dabei hat das haschemitische Königreich rund 145.000 syrische Kinder in sein Schulsystem aufgenommen. Ein Kraftakt. Vormittags unterrichten sie in Jordanien die einheimischen Kinder, nachmittags die Syrer. Lehrer wie der 31-jährige Essam in der melkitischen Schule in Fuheis, einem christlichen Vorort Ammans, schieben Doppelschichten. „Ein großer Unterschied ist, dass die syrischen Kinder aggressiver als die jordanischen sind“, sagt er. Die Schicksale der Kinder gehen dem Junglehrer nahe. Eine seiner Lieblingsschülerinnen in einer der informellen Caritas-Aufholklassen hier sei plötzlich schweigend und tieftraurig im Klassenzimmer gesessen. „Ihr Vater hatte ihr an diesem Tag erklärt, dass sie verheiratet wird.“ Zwangsehen, auch so ein Problem.

Die elfjährige Nisreen in einer Schule im jordanischen Fuheis. Der Krieg holt sie immer wieder ein.
Die elfjährige Nisreen in einer Schule im jordanischen Fuheis. Der Krieg holt sie immer wieder ein. (c) Jürgen Streihammer

Andere Kinder hier im beschaulichen Fuheis holt der Krieg ein. Immer wieder. Die elfjährige Nisreen mit den großen goldenen Ohrringen und dem rosa Overall hat soeben in Fuheis ein syrisches Volkslied vorgetragen und kichernd eröffnet, dass sie am liebsten noch mehr Schultage hätte. Eine Frage genügt, und Nisreens Stimmung kippt. Wie war das damals in Syrien? Das Mädchen ballt die kleinen Hände zu Fäusten, mit versteinerter Miene erzählt sie, wie sie sich während der Angriffe im Haus versteckte und vom Großvater, der den Schrecken des Kriegs nicht ertragen konnte, plötzlich tot im Bett lag – Herzinfarkt. Die Betreuerin streicht dem Mädchen nun sanft über den Kopf und versucht, vorsichtig ihre Hände zu öffnen, um die Anspannung zu lösen.Es braucht nicht viel, um die Ängste hervorzuholen, die der Krieg den Kindern aufgeladen hat. „Manchmal ist es ein Hupen, das Geräusch eines Flugzeugs aus der Ferne oder nur ein lautes Wort“, sagt Kinderpsychologin Reem von der Caritas Jordanien. Die Ängste drückten sich in Bettnässen aus, in Albträumen, eben auch in aggressivem Verhalten in der Schule – oder in Schweigen, wie etwa im Fall des fünfjährigen Waheem im Caritas-Kindergarten in Fuheis. Drei Sterne kleben dem Buben auf der Stirn – eine Auszeichnung, weil er die ersten Buchstaben des englischen Alphabets richtig aufgeschrieben hat. Mit Erwachsenen redet Waheem nicht. Wenn sich Fremde nähern, reißt er verschreckt die braunen Augen auf.

„Manche syrischen Kinder spielen auch Krieg“, sagt Psychologin Reem. Man kann sich ausmalen, dass aus dem Spiel in einigen Fällen Ernst werden könnte, dass einige diese Kinder, verroht vom Krieg und in vielen Fällen ohne Perspektive, eines Tages für das Angebot islamistischer Terroristen (ein pervertierter Sinn im Leben, Geld, Frauen) empfänglich sein könnten.

Nun halten sich die Betreuer an den kleinen Behandlungserfolgen fest, etwa an dem Fall eines traumatisierten Mädchens, das anfangs nur mit schwarzen Stiften malte, bis die Therapie Wirkung zeigte und sie ihren Bildern wieder Farbe gab – oder dem Buben, der nicht mehr in der Lage war, Empathie zu empfinden und auf seine Mitschüler einschlug, der sich nun aber zum Beschützer gewandelt halt. Manche Kinder tauen auf, wenn sie sich zuflüstern, „Stille Post“ spielen, das sie hier „Telefon ohne Kabel“ nennen. Anderen hilft ein Puppentheater, in dem sie spielerisch lernen, wie sich Mobbingopfer fühlen. 

Doch Narben bleiben. Zum Beispiel bei Mannaweela, einer elfjährigen assyrischen Christin aus dem Nordirak. Denn Jordanien ist nicht nur für Syrer ein Zufluchtsort im Nahen Osten. Die Bevölkerungszahl des Königreichs ist seit 2013 um drei Millionen auf 9,6 Millionen Menschen angeschwollen, 1,265 Million davon sind Syrer, 636.000 Iraker.Die elfjährige Mannaweela floh mit ihren Eltern vor denSchergen der IS-Terrormiliz aus einem christlichen Dorf nahe Mossul.

„Der Ort ist leer. Alle sind weg und die Häuser vermint“, sagt der Vater. Nach der Flucht fuhr der Vater nach Bagdad, um sein Haus um 190.000 Dollar zu verkaufen. Kriminelle bekamen Wind davon. Die kleine Mannaweela wurde entführt. Vier Tage lang war sie in der Gewalt von Kriminellen. Der Vater zahlte schließlich das Lösegeld – genau 190.000 Dollar. Seine Tochter fand er unter einer Brücke. „Sie hatten sie angekettet und ihr einen schwarzen Sack über den Kopf gezogen. Ich wagte es zunächst nicht, darunterzusehen. Ich hatte Angst, dass sie das Kind schlimm zugerichtet hatten.“ Sie war unversehrt. Heute verrichtet der Vater in einer Kirche in Amman Hilfsarbeiten. Den Schulbesuch für seine Tochter kann er sich so leisten. Bildung sei das Wichtigste, sagt er. Luxusgut Bildung.

Die Familie floh aus einem christlichen Dorf im Nordirak. Die Tochter in der Bildmitte wurde danach für vier Tage entführt. Nun leben sie in Amman.
Die Familie floh aus einem christlichen Dorf im Nordirak. Die Tochter in der Bildmitte wurde danach für vier Tage entführt. Nun leben sie in Amman. (c) Jürgen Streihammer

Das sehen hier viele Flüchtlingseltern anders. Die Mutter von Yusuf zum Beispiel, dem Buben, der im Textilladen arbeitet und nicht weiß, warum er nicht zur Schule gehen darf. Als er und seine Brüder ihre Berufswünsche vortragen – einer will Ingenieur werden, der andere Pilot und ein dritter Designer –, muss die Mutter laut auflachen. Bildung ist für die Analphabetin aus der ländlichen Region um das syrische Deraa ein Luxusgut, das sich die Familie, so sieht sie das, nicht leisten kann.

Es drängt sich der Vergleich mit der Großmutter auf, die im Kontrast dazu für die Bildung ihrer Enkelkinder Wohnungen in Amman putzt. Tariq, ihr Enkel, sagt, er wolle Lehrer werden. Wie vielen syrischen Kindern hat auch ihm der Krieg zwei Schuljahre gestohlen. Aber der Vollwaise hat eine reale Chance auf seinen Traumberuf, auf ein geglücktes Leben.

Hilfe für Kinder in Jordanien

75.000 syrische Kinder in Jordanien gehen nicht zur Schule. Mindestens. Caritas Jordanien organisiert mit österreichischer Unterstützung Aufholklassen, Kindergarten und Nachholunterricht und bietet auch psychosoziale Betreuung an.
Zu dem ganzheitlichen Ansatz zählt, dass Eltern unter anderem für die Bedeutung von Bildung sensibilisiert werden sollen. Das Programm erreicht jährlich 2000 Kinder.

Spendenkonto der Caritas: Kennwort: Die Presse Bildung Jordanien. Erste Bank. BIC: GIBAATWWXXX. IBAN: AT23 2011 1000 0123 4560.

( Print-Ausgabe, 20.03.2016)

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