Seselj-Chefankläger: "Wir werden wahrscheinlich berufen"

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Chefankläger Brammertz geißelt den Freispruch des serbischen Nationalisten Šešelj. Sicht der Richter auf die Balkankriege widerspreche allen bisherigen Urteilen.

Die Presse: Das UN-Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien in Den Haag hat am Donnerstag den serbischen Nationalistenführer Šešelj in allen neun Anklagepunkten freigesprochen. Die Urteilsbegründung fällt für die Staatsanwaltschaft vernichtend aus. Die Richter werfen Ihnen Verdrehung, Verwirrung und sogar Parteilichkeit vor. War die Anklage gegen Šešelj schlecht vorbereitet?

Serge Brammertz: Nein, mit Sicherheit nicht. Hatten Sie Gelegenheit, auch die abweichende Meinung der italienischen Richterin zu lesen?

Ja, es gab eine abweichende Meinung von Flavia Lattanzi. Die anderen beiden Richter konnte sie aber nicht überzeugen.

Richterin Lattanzi war der Meinung, dass Šešeljs Verbrechen erwiesen sind und ein Schuldspruch gerechtfertigt ist – also das Gegenteil von dem, was die anderen beiden Richter festgestellt haben. Es wird Sie nicht überraschen, wenn ich die Meinung dieser beiden Richter nicht teile.

Warum nicht?

Mein Problem ist, dass die Richter die Sachlage in einer Art und Weise schildern, die in flagrantem Widerspruch zu dem steht, wie wir die Kriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina betrachten. Ihre Analyse widerspricht auch dem, was in Dutzenden anderen Urteilen festgestellt wurde. Man könnte gar meinen, das Urteil handle von einem anderen Konflikt als dem, für den wir die Strafverfolgung eingeleitet haben.

Was genau meinen Sie?

Ich habe ein Problem damit, wenn die Richter urteilen, dass die Kämpfer von Šešelj nur ihren eigenen Leuten zu Hilfe gekommen seien und keine Straftaten begangen hätten, dass es keine erzwungenen Vertreibungen, keine großangelegten und systematischen Angriffe auf Zivilisten gegeben habe. Es stimmt einfach nicht mit der Wirklichkeit überein, dass Menschen lediglich aus humanitären Gründen mit Bussen in andere Gegenden gebracht worden seien. Deshalb werden wir wahrscheinlich Berufung einlegen.

Das Tribunal ist auch zum Schluss gekommen, dass Šešeljs großserbische Propaganda an sich nicht kriminell sei.

Die Richter stellen fest, dass die Hassreden Šešeljs – also die Aufhetzung zu Straftaten – lediglich der Motivation der eigenen Truppen gedient hätten. Wenn man davon ausgeht, dass es gar keinen Konflikt gegeben hat und Verbrechen gar keine Verbrechen waren – dann ist es natürlich sehr schwierig, jemanden als Hauptverantwortlichen zu verurteilen. Wir werden prüfen, ob die Richterkammer da keine maßgeblichen Fehler gemacht hat.

Hinter diesem Freispruch verbirgt sich ja eigentlich der Vorwurf, dass die Anklage anti-serbisch agiert habe. Die Richter haben Ihnen eine „sehr parteiische Interpretation der Ereignisse“ unterstellt und damit Šešeljs Behauptungen im Grunde bestätigt.

Das sehe ich natürlich überhaupt nicht so. Im Šešelj-Verfahren hat es von Anfang an zahlreiche Schwierigkeiten gegeben.

Inwiefern?

Das Verfahren wurde am Anfang durch einen Hungerstreik von Šešelj verzögert, weil er sich selbst verteidigen wollte. Das hat die Berufungsinstanz dann akzeptiert, was weitere Probleme nach sich gezogen hat. Šešelj wurde ja auch drei Mal verurteilt, weil er Namen von geschützten Zeugen genannt hat. Gegen drei seiner Mitarbeiter ist immer noch ein Verfahren anhängig wegen Manipulation von Beweismitteln. Die serbischen Behörden müssten sie eigentlich schon seit einem Jahr festnehmen und nach Den Haag schicken. Sie werden verdächtigt, maßgeblich Zeugen unter Druck gesetzt zu haben.

Warum hat das Verfahren gegen Šešelj überhaupt 13 Jahre gedauert?

Diese Frage müssen Sie den Richtern stellen. Der letzte Zeuge der Anklage war 2010 im Gerichtssaal. Das Verfahren wurde 2012 abgeschlossen. Seither haben wir auf eine Entscheidung der Richter gewartet. Die Urteilsverkündung war für den Oktober 2013 angekündigt, dann wurde einer der drei Richter für befangen erklärt und ersetzt. Danach hat die Kammer von November 2013 bis jetzt gebraucht, um zu diesem Urteil zu kommen. Ich denke nicht, dass man der Anklagebehörde etwas vorwerfen kann.

Denken Sie, dass der Vorsitzende Richter, Jean-Claude Antonetti, befangen war?

Ich möchte mich dazu nicht äußern. Und ich möchte die Richter hier nicht kritisieren. Das wäre nicht angemessen.

Und für Selbstkritik sehen Sie keinen Anlass?

Natürlich gab es in diesem Verfahren eine Reihe von Problemen – vor allem eine Reihe von Zeugen, die dann plötzlich nicht mehr bereit waren, auszusagen oder ihre Aussage aus der Vergangenheit zu bestätigen.

Betrachten Sie das Urteil als eine Verhöhnung der Opfer?

Ich teile die Frustrationen der Opfer. Ich würde mir natürlich wünschen, dass in einem Berufungsverfahren die Realität dieser Kriege wieder anerkannt wird. Aber wir haben noch das Verfahren gegen General Mladić, das im Sommer abgeschlossen sein sollte – mit einem Urteil im kommenden Jahr.

Wann werden Sie gegen das Šešelj-Urteil Berufung einlegen?

Wir haben 30 Tage, um Berufung einzulegen, aber wir werden sicherlich vorher schon eine Entscheidung darüber treffen.

ZUR PERSON

Serge Brammertz, geboren 1962, ist seit 2008 Chefankläger des Internationalen Gerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien mit Sitz in Den Haag. Der belgische Jurist leitete zuvor die Ermittlungen im Fall des ermordeten libanesischen Ex-Ministerpräsidenten Rafik Hariri. Von 2003 bis 2006 war er der erste stellvertretende Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2016)

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