Radikalisierung: „Islamisten suchen gezielt Frauen“

Claudia Dantschke
Claudia Dantschke(c) Gordon Welters / laif / pictured (Gordon Welters)
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Junge Männer aus Europa strömen nicht mehr so stark wie früher zum bedrängten IS, sagt Radikalisierungsexpertin Dantschke. Dafür wirbt die Terrormiliz vermehrt um Mädchen.

Die Presse: Die Terrormiliz IS ist derzeit nicht so erfolgreich. Wirkt sich das auf die Radikalisierung von Jugendlichen aus?

Claudia Dantschke: Zumindest bei männlichen Jugendlichen ist es ein bisschen gestoppt. Was aber nach wie vor läuft, ist die Rekrutierung von Mädchen und Frauen.

Warum gerade Frauen?

Es wird seit etwa zwei Jahren massiv in Mädchengruppen im Netz geworben. Als zweite, dritte, vierte Ehefrau eines Jihad-Kämpfers. Die Mädchen dort sind angehalten zu rekrutieren. Sie geben bei ihren Freundinnen an, wie toll es ist.

Kommt da eine Bestellung aus dem IS-Gebiet?

Alle in Syrien kommunizieren mit Freunden, Eltern, der Szene. Teilweise mischen sich Rekruteure in Jugendchatgruppen und merken, wer eventuell ansprechbar ist. Ich habe einen Fall, dass in einer muslimisch-konservativen Chatgruppe nach dem Attentat in Brüssel debattiert wurde, dass das nicht in Ordnung ist. Ein Mädchen scherte da völlig aus. Da versteifte sich die Gruppe auf sie – mit dem Effekt, dass sie sich zurückgezogen hat.

Und damit machte sie sich für Rekruteure ansprechbar.

Das Mädchen ist hochgradig ausreisegefährdet. Sympathiebekundungen sind ein Alarmsignal. Man muss da vorsichtig sein, um niemanden in die Ecke zu treiben.

Und wer wird radikalisiert?

Jugendliche aus allen Milieus konvertieren in eine radikale Ideologie hinein. Wenn sie Muslime sind, haben sie den Islam daheim maximal in einer traditionellen Richtung kennen gelernt. Oder sie kommen aus weltlichen Familien, in denen der Islam Teil der Herkunft ist, aber nicht gelebt wird. Selten gibt es eine vertiefte Gläubigkeit.

Sie haben ja auch den Begriff des Pop-Jihad geprägt.

Die Popstars sind die Mudjaheddin im Irak und in Syrien. Viele Jugendliche haben von salafistischer Theologie kaum eine Ahnung, alles wird verkürzt auf hohle Phrasen. Früher hatten wir eine Art stufenweise salafistische Radikalisierung, man stellte sein Leben komplett um, besuchte mehrtägige Seminare, kapselte sich völlig von der Umwelt ab.

Das machen die Pop-Jihadisten nicht mehr?

Nur punktuell. Ein bisschen praktizieren, ein paar Floskeln, aber sonst ist es eher das Zugehören zu einer Gruppierung. Die hören sich auch im Netz nicht mehr einstündige Predigten an. Das ist denen viel zu lang, die haben eine Aufmerksamkeitsspanne von fünf, maximal zehn Minuten.

Und da wirkt die IS-Propaganda?

Die Videos müssen kurz geschnitten und hip sein, das bieten IS-Medien. Wer den längeren, ideologischen Radikalisierungsweg hinter sich hat, geht nicht zum IS, sondern zu Jabhat al-Nusra. Den zu deradikalisieren ist viel schwieriger als einen Jungen, der beim IS Action, Abenteuer, Männlichkeit sucht. Langfristig sehe ich al-Qaida als gefährlicher an als den IS. Da ist mehr – unter Anführungszeichen – Qualität dahinter.

Es gibt hier ja auch die Koranverteiler der Initiative „Lies“.

Die sind gefährlich. Sie haben es mit ihrer Aktion geschafft, weit in den Mainstream hinein auf Sympathie zu stoßen. Die Jugendlichen gehen dann mit Fragen zum Islam nicht in die Mainstream-Nachbarmoschee, sondern zu den radikalen Predigern der „Lies“-Aktion. In den Hinterzimmern findet dann die eigentliche Radikalisierung statt.

Gibt es ein direktes Netzwerk der Leute von „Lies“ mit dem IS?

Von den bekannten Predigern in Deutschland spricht sich keiner für den IS aus. Teilweise sogar dagegen. Aber man darf nicht sagen, wer sich vom IS distanziert, distanziert sich vom Jihadismus. Besonders deutlich wird das an Pierre Vogel, der sich nach den Anschlägen von Paris vom Terror distanziert hat. Für den IS ist er ein Abtrünniger. Das sehen die deutschen Anhänger der Jabhat al-Nusra nicht so streng und verteidigen ihn.

Die Ideologie bedeutet auch Verzicht. Warum macht man das?

Das ist ja das Absurde. Wir haben mit Jugendlichen gesprochen, wie sie sich das Paradies vorstellen. Diese Vorstellung ist sehr plakativ, all das, was sie jetzt haben könnten, verlagern sie auf das Leben nach dem Tod. Da können sie Party machen für die Ewigkeit.

Welche Aufgaben übernehmen die Leute aus Europa im Kalifat?

Für den IS sind die Wohlstandskinder nicht die ersehnten Kämpfer, die sind billiges Kanonenfutter. Aber sie sind wichtig für das Image und teilweise für die Struktur, etwa Polizeidienst. Gib einmal so einem Jungen Macht, da entwickeln sich einige sehr extrem. Aber die richtigen Kämpfer an der Front sind Tschetschenen und Nordafrikaner.

ZUR PERSON

Claudia Dantschke (geb. 1963) leitet die Beratungs- und Deradikalisierungsstelle Hayat, die sich um Jugendliche kümmert, die von Radikalisierung bedroht sind. Dabei läuft der Kontakt vor allem über die Eltern der Betroffenen. Durch ihre Arbeit konnte die gebürtige Leipzigerin auch schon Jugendliche zurück nach Deutschland holen, die bereits beim IS in Syrien waren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.04.2016)

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