Liebenswerte Schrullen der Insulaner

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Vom Linksverkehr bis zum Pint, von dreipoligen Steckern bis zum English Breakfast: Was wir bei einem EU-Austritt Großbritanniens alles verlieren und vermissen würden. Eine betont britische Expedition in 15 Etappen.

Don't leave me this way“, jammerte das britische Pop-Duo The Communards 1986, und wenn es damals auch nicht an den Austritt seines Landes aus der EU dachte, so fürchtet heute mancher Anglophile: „I can't survive, I can't stay alive“ – ohne die Briten. Also: Was würden wir bei einem Brexit verlieren?

Seit der Ankunft beim ersten Sommersprachkurs irgendwo im Süden Englands hat sich jedem Besucher Großbritanniens die Straßenaufschrift „Look Right“ eingeprägt. Das ist für Fußgänger überlebenswichtig, auch wenn es unlogisch erscheint, denn im Land herrscht Linksverkehr. Die Tradition geht angeblich bis zu den Römern zurück. Sie beruht darauf, dass die meisten Menschen Rechtshänder sind und sich durch die Benützung der linken Fahrspur die rechte Hand frei hielten, um gegebenenfalls bei einer feindlichen Begegnung das Schwert zücken zu können. Diese Aufgabe hat heute das Handy übernommen.

Wer es auf dem Flughafen dank kluger Bodenmarkierungen unbeschadet bis zum Autoverleih geschafft hat, wird bei der Ausfahrt mit einer weiteren Besonderheit des britischen Verkehrs konfrontiert: Wo der Kontinentaleuropäer eine Ordnung schaffende Ampel erwartet, hat der Brite einen Rücksicht fördernden Kreisverkehr installiert. Mehr als 10.000 davon gibt es im ganzen Land, der älteste wurde 1768 in Bath eingerichtet und ist heute ein geschütztes Kulturdenkmal. Wer nicht sehr genau aufpasst, fährt entweder länger im Kreis, als sich die Erde um die Sonne dreht, oder landet auf einem Hypermegariesen-Supermarktparkplatz.

Hat man sein Fahrziel erreicht, sein Mietauto abgestellt und sein Quartier bezogen, muss man sein Handy aufladen. Dafür braucht der Besucher einen Adapter, denn Großbritannien verwendet dreipolige Stecker gemäß der 1947 eingeführten Industrienorm BS1363. Vielleicht ist es den großen, schweren und unhandlichen Dingern zuzuschreiben, dass die Briten offenbar glauben, der Strom komme aus der Steckdose: Im Vorjahr wurde in London ein Mann wegen „Ableitung von Elektrizität“ verhaftet, weil er sein Handy in einem Zug an einer Steckdose anstecken wollte.

Nachdem das Handy erfolgreich geladen wurde, hat man sich eine Erfrischung verdient und geht ins Pub auf ein Ale oder einen Cider. Nach den 1824 erlassenen Imperial Measurements entspricht ein Pint exakt 0,5683 Liter. Obwohl Großbritannien 1995 offiziell auf das metrische System umstellte, hat sich das Pint ebenso gehalten wie die Längenangaben Inch, Foot und Mile oder die Gewichtseinheiten Pound und Stone. Weitgehend vergessen sind hingegen Furlong (201,168 Meter), Gill (142,065 Milliliter) oder Drachm (1,771 Gramm). Obwohl EU-Richtline 80/181/EEC in der Fassung vom 11. März 2009 die zeitlich unbefristete Verwendung traditioneller Einheiten erlaubt, wird selbst der Brexit sie nicht zurückbringen.

Wer vom Bier hungrig geworden ist, holt sich Fish 'n' Chips, kräftig mit Vinegar übergossen. Um den nächsten Chippy zu finden, braucht man kein Navi, sondern muss man nur der Nase folgen (und den örtlichen Katzen). Der fettige Fisch wurde früher zum Abtropfen in Zeitungspapier gewickelt. Unbekannt ist, ob mehr Menschen an Bleivergiftung oder Cholesterinschock starben. Das Gericht ist nur eine von vielen kulinarischen Besonderheiten Britanniens, zu denen auch schottischer Haggis (gefüllter Schafmagen) oder walisischer Caerphilly (Schnittkäse) zählen.

Zur Verdauung zurück ins Pub, ehe die Glocke zu den Last Orders ertönt. Nachdem der edle Brite in jahrhundertelangen Selbstversuchen im Dienste der Wissenschaft gewisse Hinweise darauf sammeln konnte, dass die 23-Uhr-Sperrstunde zu wildem Binge Drinking vor Versiegen des Schankhahns führt, wurde die Bestimmung 2005 gelockert. Wie viele andere Kulturleistungen der New-Labour-Ära wird diese Errungenschaft nur unzureichend gewürdigt. Die meisten Pubs sehen schon deshalb keinen Anlass zur Verschiebung der Sperrstunde, weil kein Stammgast, der auf sich hält, sich um 23 Uhr noch in einem Zustand befindet, bei dem weitere Alkoholzufuhr möglich wäre.

Am nächsten Morgen erwacht man verdrossen, denn das stete Klopfen, das einen aus dem Schlaf geholt hat, war nicht der charmante Room Service, sondern der britische Regen. Obwohl die Temperaturen über Nacht stärker gefallen sind als die London Stock Exchange nach dem Brexit, trotzen die Einheimischen dem Wetter unverdrossen: Bei zwei Grad plus ziehen die Ersten ärmellose T-Shirts an, bei drei Grad wird die kurze Hose ausgepackt, bei vier Grad trägt man Flip-Flops. Man sagt, der British Summer bestehe aus zwei Tagen Schönwetter und einem Gewitter. Sommerkleidung wird dennoch das ganze Jahr getragen.

Weil man friert und an den beiden Tabs mit eiskaltem und siedend heißem Wasser seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt hat, freut man sich umso mehr auf wärmende Stärkung durch ein Full English, wie der Kenner das nationale Frühstück nennt. Es besteht aus Spiegelei, Würsten, Speck, einem halben gebratenen Paradeiser (für die Vitamine), Champignons, Blutwurst, Bohnen in Paradeissauce und Karoffelpuffer. Dazu gebutterter Toast und Tee oder Kaffee. Und Brown Sauce, eine Spezialität aus den Schoten des Tamarindenbaums, die nur verweigert, wer noch nicht Marmite, einen Brotaufstrich aus Hefeabfällen, probiert hat.

Wer all das überstanden hat, wird verstehen, dass Breakfast wörtlich bedeutet, das Fasten zu brechen, und dass es aus einer Zeit stammt, in der die Menschen nur morgens und abends aßen. Das Frühstück bestand damals nur aus Ale und Brot. Zum Abendessen wurde auf das Brot gern verzichtet, besonders an Freitagen, wenn der Wochenlohn versoffen wurde. Bis heute ist daher Donnerstag der Election Day.

Aufgepäppelt mit rund 1000 Kalorien fühlt man sich hinreichend gestärkt, dem anhaltenden Schlechtwetter zu widerstehen und macht sich auf die Suche nach den örtlichen Sehenswürdigkeiten. Das unvermeidliche Castle hat seine besseren Tage längst hinter sich, der English Garden blüht hingegen dank der liebevollen Aufsicht eines bulgarischen Gärtners, seiner emsigen kosovarischen Helfer und des nicht endenden englischen Regens prächtig. Ein herzloser Republikaner, der hier beim Lustwandeln nicht Ihrer Majestäteinen freundlichen Gedanken widmet, denn ihr gehört (theoretisch) nicht nur das ganze Land, das sie großzügig dem Besucher öffnet, sondern nach einer Bestimmung von 1324 sind auch alle Schwäne, Delfine und Störe in königlichem Besitz.

An solchen Traditionen rütteln die Briten ungern. Nicht nur beanspruchen sie für sich, den Fußballsport erfunden zu haben, als im achten Jahrhundert Köpfe von unterlegenen dänischen Soldaten herumgekickt wurden. Obwohl „das Spiel“ regelmäßig Menschenleben forderte, war es so populär, dass König Edward 1331 ein Verbot erließ.

Indes entwickelten sich andere elegante Sportarten wie Käselaibrollen, Palatschinkenwettrennen und Baumstammwerfen. Seit die Fuchsjagd 2004 von New Labour verboten wurde, hat ihre Beliebtheit stark zugenommen. Wer zu diesem noblen Zeitvertreib nicht geladen ist, hat immerhin die demokratische Chance, bei einem Bookie eine Wette abzuschließen. Gewettet wird grundsätzlich auf alles, auch auf den Brexit. Dabei gehen die Buchmacher entgegen den Meinungsforschern klar von einem Verbleib aus.

Da sich wieder der Hunger regt, freut man sich nun auf ein klassisches britisches Curry. Eingeführt vom indischen Subkontinent, hat sich das Gericht, bei dem Fleisch dubioser Provenienz in undurchsichtigen Saucen und hinter scharfen Gewürzen verborgen wird, im ganzen Land durchgesetzt. Vor Jahren kürten die Briten Chicken Tikka Masala zu ihrem Lieblingsgericht. Das angeblich indische Gericht stammt in Wahrheit aus Newcastle. In der EU-Debatte warnen Gegner der Union Freunde der (schein-)indischen Küche, es gebe zu viele polnische Handwerker und daher zu wenige indische Köche. Noch nicht behauptet wurde, dass auch der klassische Afternoon Tea in Gefahr sei. Das quintessenzielle britische Getränk stammt aus China.

Doch egal, woher man stammt – wer nach Großbritannien kommt, wird sich rasch hier verständigen können. Englisch ist die globale Sprache unserer Zeit. Dass Großbritannien von BBC bis Britpop und von Tate Modern bis zum Edinburgh Festival (1947 gegründet von dem Österreicher Rudolf Bing) heute wohl die führende Kulturnation ist, hat auch mit seiner Sprache zu tun. Dass die Briten zu einer Zeit aus der EU aussteigen könnten, in der sie die sprachliche Hegemonie errungen haben, muss nicht nur Linguisten und Philosophen zu denken geben, sondern auch Psychologen. Es wird aber den Siegeszug einer Sprache nicht stoppen, die es jedem erlaubt, sie falsch zu sprechen und sich dennoch verständlich auszudrücken.

Selbst mit dem legendären britischen Black Humour wird es daher schwer zu ertragen sein, wenn Großbritannien am kommenden Donnerstag seinen Austritt aus der europäischen Familie wählt. „Nebel im Kanal – Kontinent abgetrennt“, lautete eine Schlagzeile im Geist der klassischen Splendid Isolation. Als Besucher, Freund oder Mitbewohner kann man den Briten, ehe sie ihren Schritt wählen, nur zurufen: Mind the Gap!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.06.2016)

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