Russlands kaukasischer Knoten

(c) AP (Musa Sadulayev)
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Vergeblich bemüht sich Moskau seit Jahrhunderten um Ruhe im Nordkaukasus. Kaum ein Tag vergeht ohne Mord in einer der vielen Republiken. Selbst intimste Kenner der Region verfallen in Ratlosigkeit.

Moskau. Beim Versuch, die verworrene Situation im russischen Nordkaukasus zu erfassen, verfallen selbst intimste Kenner der Region in Ratlosigkeit: Kein Gebiet der Ex-Sowjetunion ist annähernd so explosiv, kein Landstrich mehr umkämpft, keine Gegend mehr mit Blut getränkt. Der nordkaukasische Knoten ist festgezurrt, meint Alexej Malaschenko, Nordkaukasusexperte des Moskauer Carnegie Zentrums: „Und einstweilen ist er leider unlösbar. Es lässt sich nicht einmal sagen, wer da wen tötet und in die Luft jagt.“

Getötet wird neuerlich am laufenden Band. Kaum ein Tag vergeht ohne Mord in einer der vielen Republiken. Am Montag etwa sprengte ein Selbstmordattentäter einen Kleinlaster im Hof des Polizeihauptquartiers in der inguschetischen Hauptstadt Nazran in die Luft. 21 Menschen starben, Dutzende wurden verletzt. Im benachbarten Tschetschenien, das seit ein, zwei Jahren von Aufbau und relativer Ruhe gekennzeichnet war, verwundeten Rebellen am Sonntag sechs Polizisten, am Montag wurde eine fünfköpfige russische Familie erschossen. Und auch in der dritten „heißen“ Republik, Dagestan, wurden bei zwei Anschlägen zu Wochenbeginn ein Polizist getötet und zehn weitere sowie ein Zivilist verletzt.

„Der Kaukasus kocht“

So weit die vorläufige Bilanz einer halben Woche, die lediglich einen neuen Höhepunkt der Gewalt markiert. Die Jahresbilanz ernüchtert. Allein in Dagestan etwa, mit mehr als zwei Mio. Einwohnern Russlands größte Kaukasusrepublik, haben laut Innenministerium seit Jahresbeginn 128 Angriffe auf Polizisten und drei Terroranschläge stattgefunden. Dabei wurden 39 Polizisten, vier Geheimdienstler, ein Staatsanwalt, zehn Militärs und zwölf Zivilisten getötet.

„Der Kaukasus kocht“, sagt Sergej Markedonov vom russischen Institut für politische und militärische Analyse: Und „er kocht nicht wegen geheimer äußerer Kräfte, sondern wegen innerer Widersprüche. Da sind Vorfälle von Blutrache, kriminellen Abrechnungen und der Kampf örtlicher Eliten.“

Das offizielle Moskau und seine loyalen Vertreter vor Ort sprechen – wie während der zweiten „antiterroristischen Operation“ in Tschetschenien, die im April nach zehnjähriger Dauer offiziell beendet wurde – nun wieder vermehrt von den „geheimen äußeren Kräften“, sprich islamistischen Söldnern, die im Interesse des Westens Russland destabilisieren.

Ökonomisch am Boden

Die Präsenz radikaler Islamisten wird auch von Experten nicht geleugnet. Ihre Aktivität der „Archaisierung und Antimodernisierung einer halbtraditionalistischen Gesellschaft“, wie Malaschenko es nennt, findet aber auf einem Nährboden sozialer und wirtschaftspolitischer Krisen statt. Ökonomisch am Boden, sieht sich die Region mit Massenarbeitslosigkeit und zunehmender Entfremdung von Russland konfrontiert. Die Führungen wurden meist vom Kreml oktroyiert. Zu den islamistischen Aktivitäten kämen laut Malaschenko die urrussischen Phänomene wie Korruption und autoritäre Führung: „Im Nordkaukasus verdoppeln und verdreifachen sich diese Momente und verbinden sich zu einer Allianz“.

Wetteifert Russland bis heute mit den historischen Regionalmächten Iran, Türkei und nun auch USA und EU um die südkaukasischen Rohstofftransitstaaten Georgien, Armenien und Aserbaidschan, so müht es sich im Nordkaukasus seit Jahrhunderten um Ruhe. Zwar konnte selbst die stärkste Widerstandsbewegung unter dem legendären dagestanischen Gotteskrieger Imam Schamil, der die kaukasischen Völker im 19.Jahrhundert einigte und die Scharia zum alleinigen Gesetz ausrief, überwunden werden.

Aber selbst radikale Russifizierung konnte nicht verhindern, dass sich die kaukasischen Völker immer wieder erhoben. Und brutale Totaldeportationen einzelner Ethnien unter Stalin führten letztlich nur dazu, dass sogar 1992 noch blutige Konflikte wegen Gebietsansprüchen ausbrachen.

Gewalt und Gegengewalt

Auch den Sowjetherrschern gelang es nicht, die ethno-territorialen Verhältnisse erfolgreich zu organisieren. Und als Russlands Präsident Jelzin den Souveränitätsbestrebungen freien Lauf ließ, drohten die Republiken zu bersten. Die Separationsbewegung der Tschetschenen führte zum ersten Tschetschenienkrieg, dem gemeinsam mit dem zweiten über 100.000 Menschen zum Opfer fielen.

Dass auch Russlands neuer Präsident Medwedjew nun mit harter Hand auf die jüngste Gewaltwelle reagieren will, erachtet Malaschenko für aussichtslos, da der Kaukasus immer mit Gegengewalt reagiere. Dass auch Medwedjews Versuch, mit Junus-Bek Jewkurow in Inguschetien einen integrativen Präsidenten einzusetzen, danebenging, ist für ihn ein Beweis für „die Aussichtslosigkeit der Situation“. Jewkurow wurde im Juni bei einem Anschlag schwer verletzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2009)

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