Aktivisten kritisieren die jüngsten Verhaftungen in Istanbul wegen „Terrorpropaganda“: Die Justiz wolle eine prominente Menschenrechtlerin mundtot machen.
Wien. Für die Rechtsanwältin Gamze Yalçin scheint klar: „Şebnem Korur Fincanci hat keine Straftat begangen. Gegen sie wird vorgegangen, weil sie sich für die Aufdeckung von Menschenrechtsverletzungen einsetzt“. Die türkischen Behörden suchten nur nach einem Vorwand, um die prominente Menschenrechtsaktivistin Fincanci mundtot zu machen, kritisiert Yalçin, selbst Vorstandsmitglied in der Gesellschaft für Menschenrechte, im Gespräch mit der „Presse“. Yalçin war gemeinsam mit dem Aktivisten Coşkun Üsterci auf Einladung des Internationalen Versöhnungsbundes Österreich und der Organisation War Resisters' International in Wien, um über die Lage in ihrem Heimatland Türkei zu berichten.
Dabei ging es auch um die jüngste Aktion der türkischen Justiz, bei der neben der Menschenrechtlerin Fincanci der Vertreter von Reporter ohne Grenzen in der Türkei, Erol Önderoğlu, und der Journalist Ahmet Nesin verhaftet wurden. Die Staatsanwaltschaft beschuldigt sie der „Terror-Propaganda“.
So wie 41 andere prominente Journalisten und Aktivisten hatten sich die drei an einer Solidaritätsaktion für die prokurdische Zeitung „Özgür Gündem“ beteiligt. Jeden Tag übernahm ein anderer von ihnen die Funktion des Chefredakteurs für das Blatt, dessen Stammredaktion durch Verhaftungen ausgedünnt ist. Das soll das weitere Erscheinen der Zeitung sicherstellen.
„Rotierende Chefredakteure“
Die türkische Justiz wirft „Özgür Gündem“ vor, der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nahezustehen. Deshalb wurden nun in Istanbul auch 37 der „rotierenden Chefredakteure“ zur Aussage vorgeladen, der Journalist Nesin, Reporter-ohne-Grenzen-Vertreter Önderoğlu und Menschenrechtsaktivistin Fincanci wurden dabei inhaftiert. „Fincanci ist nicht nur Präsidentin der Menschenrechtsstiftung der Türkei, sondern auch eine international bekannte Expertin für Gerichtsmedizin“, berichtet der Aktivist Üsterci, der ebenfalls für die Menschenrechtsstiftung arbeitet. „Sie hatte etwa für die UNO bei der Exhumierung von Massengräbern in Bosnien geholfen.“
Zuletzt reiste Fincanci in die Stadt Cizre im Osten der Türkei. Dort war die türkische Armee mit schweren Waffen gegen kurdische Aufständische vorgegangen. „Sie hat in Cizre zu den Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte recherchiert“, sagt Üsterci – seiner Meinung nach der eigentliche Grund für die Verhaftung der Aktivistin.
Die Türkei entferne sich immer weiter vom Modell des Rechtsstaats, Präsident Recep Tayyip Erdoğan bringe die Justiz unter seine Kontrolle, kritisiert Üsterci. „Die Europäische Union muss zu Erdoğan endlich Stopp sagen.“ (w. s.)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2016)