Präsident Obama ist bereit, die Militärhilfe für Europa zu vervierfachen. Doch das Largieren der Europäer erzürnt Washington.
Washington. Der amtierende Präsident ärgert sich über „europäische Trittbrettfahrer“ in der Nato, der republikanische Anwärter auf seine Nachfolge erklärt das Verteidigungsbündnis gar für obsolet: Das transatlantische Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und den 27 europäischen Nato-Mitgliedern ist derzeit so angespannt wie zuletzt höchstens im Vorfeld der westlichen Invasion im Irak im Frühjahr 2003. Doch während damals ein tiefer Graben Länder wie Deutschland und Frankreich von dem US-britischen Drängen auf die militärische Entmachtung Saddam Husseins getrennt hat, lassen sich die Haltungsunterschiede heute an zwei Fragen veranschaulichen: Soll die Nato dem Russland Wladimir Putins mit einer glaubwürdigen militärischen Abschreckung weitere imperialistische Abenteuer wie in der Ukraine oder Georgien vergällen? Und sollen die Europäer dafür mehr Geld und Truppen bereitstellen? In Washington bejaht man beide Fragen; in Europa spalten sich die Meinungen.
„Die Nato hat ihre Friedensdividende schon vor langer Zeit aufgebraucht. Die Frage bei diesem Gipfeltreffen ist: Wer wird für die Verteidigung bezahlen?“, stellt der frühere US-Diplomat Stephen Sestanovich, der heute an der Columbia University in New York lehrt und dem Council on Foreign Relations angehört, im „Wall Street Journal“ zur Debatte. Die schwindenden Verteidigungsbudgets und schrumpfenden Truppenzahlen der Europäer sind den USA seit Langem ein Dorn im Auge. Lange Zeit konnte man diese Einsparungen in Berlin, Paris, Den Haag oder London mit dem Verweis auf den Zerfall der UdSSR rechtfertigen; ohne strategischen Erzfeind keine Notwendigkeit, Panzerarmeen auszurüsten. Doch seit der russischen Invasion im Nato-Aspiranten Georgien im Sommer 2008 und vor allem angesichts des militärisch erzwungenen Anschlusses der ukrainischen Krim an Russland im Frühjahr 2014 ist diese Haltung überholt.
Obama, der an Europa lange Zeit wenig Interesse hatte und sein Augenmerk vor allem auf eine strategische Hinwendung der USA zu Ostasien gelegt hat, hat spät, aber doch den Ernst der Lage erkannt. EUCOM, das Oberkommando der US-Streitkräfte in Europa, hat seine letzten schweren gepanzerten Fahrzeuge 2013 abgezogen; 2015 begann man, sie zurück nach Europa zu verlegen. Obama hat dem Kongress einen Verteidigungshaushalt vorgelegt, der im kommenden Budgetjahr 3,4 Milliarden Dollar (3,1 Milliarden Euro) an Militärhilfen für Europa vorsähe – viermal mehr, als Washington derzeit dafür ausgibt.
Trump mit Nato-Ablehnung isoliert
Doch in Washington fragt man sich, wieso sich die Europäer nicht selbst stärker um ihre Sicherheit kümmern. Sestanovich erinnerte in einem Thesenpapier zum Gipfel daran, dass die mittleren Verteidigungsausgaben der 27 Nato-Mitglieder im Jahr 2015 1,18 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung betrugen; die USA gaben hingegen 3,62 Prozent für das Militär aus. 20 der 28 Nato-Staaten wandten in besagtem Jahr nicht einmal ein Fünftel ihres Wehretats für die Beschaffung neuen Gerätes auf.
Die lautstark vorgetragene Skepsis von Donald Trump am Sinn der Nato allerdings ist in den Vereinigten Staaten eine klare Minderheitenmeinung: 77 Prozent der Amerikaner finden laut Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center, dass die Nato gut für ihr Land ist. Bei den Republikanern, Trumps Partei, lag der Zuspruch immer noch bei klaren 64 Prozent.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.07.2016)