Türkei: Zahl der Festnahmen auf 6000 gestiegen

Vermeintliche Putsch-Unterstützer des Militärs werden von Polizeikräften in einen Bus in Istanbul gebracht.
Vermeintliche Putsch-Unterstützer des Militärs werden von Polizeikräften in einen Bus in Istanbul gebracht.(c) AFP PHOTO / OZAN KOSE
  • Drucken

Laut Regierung wird sich die Zahl der Festnahmen noch erhöhen. Für Präsident Erdogan ist klar, dass der in den USA lebende Prediger Gülen und seine Anhänger für den Putschversuch verantwortlich sind.

Nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei ist die Zahl der Festnahmen nach Angaben der Regierung auf rund 6000 gestiegen. Diese Zahl werde sich noch erhöhen, sagte Justizminister Bekir Bozdag nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am Sonntag in Ankara.

Unterdessen geht die Suche nach dem Schuldigen für den Putsch weiter. Gülen-Putsch, Gülen-Terroristen - für die staatlichen türkischen Medien besteht kein Zweifel. Fetullah Gülen hat den Putschversuch aus seinem Exil in den USA orchestriert. Schon vor der Nacht zum Samstag hat der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan, versucht das Netzwerk von Gülen in der Türkei zu stören, seine Behörden stellten immer wieder Richter und hohe Militärs wegen angeblicher Putschversuche vor Gericht.

Das große Problem für Erdogan: Gülen ist für ihn nicht greifbar, denn der frühere Imam und Prediger lebt im US-Bundesstaat Pennsylvania. Erdogan wandte sich am Samstag deshalb direkt an US-Präsident Barack Obama. Gülen solle ausgeliefert oder festgenommen werden.   US-Außenminister John Kerry erklärte, Washington werde ein etwaiges Auslieferungsersuchen prüfen und "angemessen" darüber entscheiden.

Gülen: Putschversuch möglicherweise inszeniert

Gülen könnte aber zum weiteren diplomatischen Hindernis zwischen den USA und der Türkei werden. Wenn die USA und die Türkei tatsächlich strategische Partner seien, müsse Obama handeln, sagte der türkische Präsident in einer Ansprache am Samstagabend vor Anhängern in Istanbul. Die Türkei ist als Nato-Mitglied enger Partner der USA, doch in letzter Zeit gab es gerade im Umgang mit dem "Islamischen Staat" nicht immer Einigkeit.

Gülen will sich den Putschversuch allerdings nicht auf die Fahnen heften. Der 75-Jährige ist seit einem schweren Zerwürfnis 2013 einer der heutigen Erzfeinde Erdogans. Der islamische Prediger hat den Putschversuch von Teilen des Militärs scharf verurteilt.

Gülen hält es für möglich, dass der Putschversuch inszeniert war. Er forderte am Samstag die Bevölkerung der Türkei auf, eine militärische Intervention nicht in einem positiven Licht zu beurteilen. Eine Demokratie könne durch militärisches Vorgehen nicht erreicht werden, sagte er.

Acht Putschisten in Griechenland

Diplomatisch heikel ist auch die Flucht von acht türkischen Soldaten, die mit einem türkischen Militär-Helikopter in Alexandroupolis in Griechenland landeten. Doch Griechenland hat bereits signalisiert, die geflüchteten Putschisten möglicherweise an die Türkei auszuliefern. Es handelt sich um drei Majore, drei Hauptmänner und zwei Unteroffiziere, alle Heeresflieger, wie griechische Medien berichteten.

Für die Soldaten würden die internationalen Regeln gelten, sagte der Sprecher des griechischen Außenministeriums, Stratos Efthymiou, der Deutschen Presse-Agentur. Es wird sehr ernst genommen, dass die Festgenommenen in ihrem Land der Verletzung der Verfassungslegalität und des Versuches, der Demokratie zu schaden, beschuldigt werden", heißt es in einer Erklärung des griechischen Außenministeriums. Am Montag soll das Asylverfahren beginnen.

Erdogan hat mit dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras telefoniert, berichtet die staatliche griechische Nachrichtenagentur ANA-MPA. Erdogan bedankte sich demnach für die griechische Haltung, den Putsch gegen ihn zu verurteilen.

Der türkische Hubschrauber mittlerweile in die Türkei zurückgeflogen worden. Medienberichten zufolge landete am späten Samstagabend ein anderer türkischer Militärhelikopter in der griechischen Grenzstadt Alexandroupolis. Dessen Besatzung überprüfte den Hubschrauber und brachte ihn zurück in die Türkei.

Sechs F-16-Jets in Putschisten-Hand

Die Putschisten in der Türkei hatten nach Angaben aus Regierungskreisen sechs F16-Kampfflugzeuge in ihre Gewalt gebracht. Die Jets seien von der Luftwaffenbasis in Diyarbakir gestartet, über Istanbul und Ankara geflogen und schließlich auf der Luftwaffenbasis in Malatya gelandet, hieß es aus Regierungskreisen.

Nach dem Scheitern des Putschversuches hätten in der Nacht zu Sonntag fünf F16 mit regierungstreuen Piloten aus der Luftwaffenbasis Eskisehir Patrouillenflüge über Istanbul absolviert.

Sonntagmorgen sind außerdem 50 hochrangige Offiziere in der Provinz Denizli festgenommen worden, berichtet die staatliche Agentur Anadolu - darunter auch der Kommandant der dortigen Garnisson und der elften Kommando-Brigade, Generalmajor Ozhan Ozbakir.

Richter entlassen oder festgenommen

Erdogan kündigte eine "vollständige Säuberung" des Militärs an. Er bezeichnete den Freitagnacht gestarteten Putschversuch dafür als einen "Segen Gottes". 

Der Sender CNN Türk meldete am Samstagabend, der Verfassungsrichter Alparslan Altan sei festgenommen worden; aus Regierungskreisen verlautete, auch sein Kollege Erdal Tezcan sei in Gewahrsam genommen worden - wie zuvor schon zehn Mitglieder des türkischen Staatsrats und fünf Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte.

2700 Richter wurden abgesetzt - fast ein Fünftel der schätzungsweise rund 15.000 Richter in der Türkei. Der Chef der Richtergewerkschaft Yargiclar, Mustafa Karadag, sagte der Deutschen Presse-Agentur in Istanbul, nicht nur mutmaßliche Unterstützer des Putsches, sondern auch völlig unbeteiligte Kritiker von Erdogan würden festgenommen.

Offiziellen Angaben zufolge wurden in einer ersten Aktion auch mehr als 2800 Putschisten aus den Reihen der Streitkräfte festgenommen. Fünf Generäle und 29 Oberste sollen nach Angaben aus Regierungskreisen ihrer Posten enthoben worden sein.

Bei dem versuchten Umsturz wurden offiziellen Angaben zufolge in der Nacht mindestens 265 Menschen (161 regierungstreue Sicherheitskräfte oder Zivilisten und 104 Putschisten) getötet und mehr als 1000 verletzt. Die Putschisten wollten nach eigenen Angaben Demokratie und Menschenrechte und die verfassungsmäßige Ordnung wiederherstellen.

Weltweit wurde der versuchte Umsturz durch türkische Militäreinheiten verurteilt - Regierungschefs und Präsidenten westlicher Demokratie mahnten aber die Einhaltung rechtsstaatlichen Handelns an.

(Ag./Red.)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Grenzzaun zwischen Bulgarien und Türkei.
Außenpolitik

Bulgarien befürchtet nach Türkei-Putsch massive Flüchtlingswelle

Es werden nichts Gutes auf Bulgarien zukommen, sagt der Regierungschef. Die Türkei werde die Millionen Flüchtlinge im Land bald nicht mehr verpflegen können.
Themenbild
Außenpolitik

„Der Türkei steht eine Zeit des Chaos bevor“

Der Historiker Norman Stone verließ kurz vor der Ausreisesperre die Türkei. Er warnt vor der Instabilität des Systems Erdoğan und den Folgen für die Gesellschaft.
A young girl wears a head scarf depicting Turkish President Tayyip Erdogan during a pro-government demonstration in Ankara, Turkey
Außenpolitik

Abschied von Europa

Mit immer neuen Repressionen stößt Erdoğan die EU-Partner vor den Kopf. Österreich berief den türkischen Botschafter ein.
Ein Flüchtlingslager in der Türkei.
Außenpolitik

Ist die Türkei noch ein sicheres Drittland?

Die Verhängung des Ausnahmezustands ist kein Grund, den Flüchtlingspakt mit Ankara zu suspendieren. Doch die zugesagte Visumfreiheit wackelt.
Turkish President Tayyip Erdogan speaks during a news conference at the Presidential Palace in Ankara
Leitartikel

Der heuchlerische Kampf des einstigen Hoffnungsträgers Erdoğan

Die AKP-Regierung bemüht als Rechtfertigung für ihre rigiden Kollektivmaßnahmen das Feindbild Gülen. Dabei hat sie selbst diese Gruppe groß gemacht.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.