Hunderte Tote, Tausende Festnahmen und Massenmobilisierungen auf den Straßen: Der Staatschef nutzt den gescheiterten Putsch, um mit brutalen Maßnahmen seine Macht zu festigen.
Istanbul. Ein „Geschenk Allahs“: So nannte Präsident Erdoğan den gescheiterten Putschversuch mit vermutlich 290 Toten. Das ist an Zynismus nicht zu überbieten, wundert aber nur die wenigsten im Land. Selten in den vergangenen Monaten stand der Präsident so gut da wie in diesen zwei Tagen, in denen sich sogar die Oppositionsparteien hinter die Regierung stellten, nie war er seinem erklärten Ziel, der Einführung des Präsidialsystems in der Türkei, so nah.
Während Erdoğan unmittelbar nach der Zerschlagung des Putschs einerseits den Sieg der „Demokratie und des Friedens im Land beschwor“ und Ministerpräsident Binali Yildirim anregte, den 15. Juli zu einem „Feiertag der Demokratie“ zu erklären, griff die Regierung andererseits auf äußerst undemokratische Weise gegen all jene durch, die sie für den Umsturzversuch verantwortlich macht. Unter jenen, die nun bestraft werden, sind beileibe nicht nur Militärs. Nur einen halben Tag nach dem Putschversuch wurde bekannt, dass 2745 Staatsanwälte und Richter, darunter zwei Verfassungsrichter, suspendiert wurden. Wie die zuständigen Behörden so schnell ihre Ermittlungen über diese Personen abschließen konnten, was ihnen vorgeworfen wird, welche Hinweise für ihre Unterstützung des Putschs es gibt, darüber gibt es keine Informationen.
Nach einer Nacht der Unsicherheit und des Terrors folgte in den türkischen Metropolen Ankara und Istanbul (im Bild) eine Nacht der Erleichterung. AFP PHOTO / BULENT KILIC
Tausende Menschen feierten ihren Präsidenten Recep Tayyip Erdogan - hier auf dem Taksim Platz in Istanbul. AFP PHOTO / BULENT KILIC
Türkische Flaggen überall, es bildeten sich Autokorsos. AFP PHOTO / BULENT KILIC
Teils haben sie sich schon in der Nacht zuvor auf die Straßen gewagt, als der Putschversuch noch in vollem Gange war. AFP PHOTO / BULENT KILIC
Präsident Erdogan hatte sie per Sozialen Medien und SMS dazu aufgerufen, sich der Ausgangssperre des Militärs zu widersetzen. AFP PHOTO / DANIEL MIHAILESCU
Seine Anhänger haben die Dauer des Putschversuches damit wesentlich verkürzt und der Regierung Zeit zum Handeln verschafft. AFP PHOTO / DANIEL MIHAILESCU
Der Kizilay Platz war in Ankara das Zentrum der Feiern der Erdogan-Anhänger. AFP PHOTO / ADEM ALTAN
In Ankara waren in der Nacht auf Samstag mehrere Bomben eingeschlagen, Teile des Parlaments und des Präsidentenpalastes waren aus der Luft aus angegriffen worden. AFP PHOTO / ADEM ALTAN
Der Putsch ist aber niedergeschlagen. Die staatlichen Medien berichten, dass die letzten Soldaten der Putschisten festgenommen seien. Im Bild: Der Taksim-Platz in Istanbul Samstagabend. AFP PHOTO / ARIS MESSINIS
Man traut sich auch mit Kindern auf die Straße. Das Militär wird jetzt weiter entmachtet, ein weiterer Putschversuch scheint da vorerst ausgeschlossen. AFP PHOTO / ARIS MESSINIS
Tausende feiern Erdogan auf der Straße
Bilder malträtierter Gefangener
Noch mehr Sorge macht vielen Beobachtern der Umgang mit den 2839 im ganzen Land festgenommenen und mutmaßlich an dem Putsch beteiligten Offizieren und Soldaten. Dass sie faire Prozesse bekommen werden, scheint unwahrscheinlich, von den Haftbedingungen ganz zu schweigen. In den sozialen Netzwerken sind Bilder im Umlauf, die malträtierte und halb nackte zusammengepferchte Soldaten in türkischen Gefängnissen zeigen, es gibt Videoaufnahmen vom Gouverneur der Stadt Sakarya, der höchstpersönlich inhaftierte Soldaten beschimpft und bedroht. Und Ministerpräsident Binali Yildirim brachte sogar die Wiedereinführung der Todesstrafe ins Gespräch.
Hinzu kommt, dass Erdoğan seine Anhänger seit der Zerschlagung des Putschs immer weiter aufwiegelt. Die ohnehin schon polarisierte Gesellschaft der Türkei spaltet sich weiter, obwohl sie den Putsch fast geschlossen ablehnte. In den Tagen nach dem gescheiterten Putschversuch füllen sich die Straßen in Istanbul mit Parolen skandierenden, Flagge schwenkenden, glühenden Erdoğan-Anhängern. Je später die Stunde, desto mehr füllen Männer mit Turbanen, langen Bärten und robenartigen Gewändern den Platz. Die Muezzine der Stadt scheinen die Order bekommen zu haben, neben den regulären Gebetsrufen immer wieder das Volk zum Widerstand gegen den eigentlich ja längst gescheiterten Putsch aufzurufen. Aus den Lautsprechern der kleinen Moschee neben dem Taksim-Platz ertönen mahnende Worte. Das Volk müsse auf die Straßen, ruft der Imam mit heiserer Stimme, um seinen Willen zu demonstrieren und um gegen den Terrorismus zusammenhalten.
Im nahe gelegenen Cihangir-Viertel, das von Künstlern, Kreativen und Intellektuellen bevölkert ist, bekannt für seine Bars, Boutiquen und Clubs, ist es derweil für einen Samstagabend ungewöhnlich ruhig. Die Menschen, die hier leben und ausgehen, sind zum allergrößten Teil genauso weit entfernt davon, einen Militärputsch gutzuheißen wie Erdoğans Anhängerschaft, doch von Jubelstimmung ist hier keine Spur. Die Menschen fürchten, dass die Radikalen unter den Erdoğan-Anhängern nun noch mehr Aufwind bekommen. In der Nacht auf Sonntag zeigt sich, dass die Sorgen in Teilen der Bevölkerung ihre Berechtigung haben. Einige der auf dem Taksim-Platz demonstrierenden AKP-Getreuen versuchten zu später Stunde, in das kurdisch-alevitische Gazi-Viertel einzudringen, das für seine linke, regierungskritische Haltung bekannt ist. Es kam zu Unruhen, die von der Polizei mit Einsatz von Wasserwerfern unter Kontrolle gebracht wurden. Und aus Ankara machten Berichte über Übergriffe in syrischen Vierteln die Runde. Dass es für den Frieden im Land nicht die beste Idee ist, die aufgeheizte Stimmung im Volk weiter anzustacheln, das ist in der Nacht auf Sonntag deutlich geworden.
Ein Putschversuch des Militärs hat in der Nacht auf Samstag, den 16. Juli die Türkei erschüttert. Mehr als 260 Menschen, darunter viele Zivilisten, kamen laut dem Chef des Militärs bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Hauptstadt Ankara und der Metropole Istanbul ums Leben. Mehr als 1150 Personen sollen verletzt worden sein. Reuters
Nach der Niederschlagung sind Regierungskreisen zufolge inzwischen fast 1600 mutmaßliche Beteiligte aus den Reihen der Streitkräfte festgenommen worden. Fünf Generäle und 29 Oberste seien ihrer Posten enthoben worden. Reuters
Dramatische Szenen haben sich in beiden Städten abgespielt, Panzer waren aufgefahren, unter anderem an der berühmten Bosporus-Brücke, die in Istanbul Asien und Europa verbindet. In beiden Städten waren immer wieder Schüsse zu hören. Reuters
Fernsehsender und Fotografen zeigten in Ankara zahlreiche Menschen, die sich auf den Straßen um Verletzte kümmerten, die am Boden lagen. Reuters
Viele wurden auf türkische Flaggen gebettet oder damit zugedeckt. In der Nähe des Armeehauptquartiers fuhren zahlreiche Krankenwagen mit Blaulicht auf, wie auf Fotos zu sehen war. Reuters
Auf dem berühmten Taksim-Platz in Istanbul liefen Dutzende Leute in Panik davon, als Kampfjets im Tiefflug über den Platz jagten. Reuters
Einige warfen sich sofort auf den Boden, andere suchten hinter Autos und Lastwagen Schutz. Reuters
Der Platz ist ein Verkehrsknotenpunkt und bei Protesten immer wieder ein wichtiger Versammlungsplatz. Reuters
An mehreren Orten strömten aufgebrachte Menschen zusammen, kletterten auf die Panzer und konfrontierten Soldaten, wie Bilder von Fernsehsendern zeigten. Reuters
Beim Flughafen Istanbul hindert ein Demonstrant einen Panzer an der Weiterfahrt. REUTERS
An der Bosporus-Brücke ergaben sich mehrere Soldaten. Nahe dem Taksim-Platz führten Polizisten Soldaten in Handschellen ab. Reuters
Auch dies war zu sehen: Menschen, die vor verlassenen Panzern Selfies schossen. Reuters
Präsident Recep Tayyip Erdogan, der seine Anhänger zum Widerstand aufgerufen hatte, traf in Istanbul ein und gab sich siegessicher. In Ankara wurde auch in der Früh noch gekämpft. Reuters
Erdogan hatte sich zum Zeitpunkt des Putsches im Badeort Marmaris an der Mittelmeerküste befunden. Nachdem die Armee am Abend in der Hauptstadt die Übernahme der Macht verkündet hatte, wandte er sich über ein im Fernsehen ausgestrahltes Videotelefonat an die Bürger. Reuters
Erdogan rief die Türken auf, die Ausgangssperre zu missachten und zu demonstrieren. Tausende Menschen folgten dem Aufruf. Reuters
Auch in Wien demonstrierten in der Nacht um die 4000 Erdogan-Anhänger. Sie zogen von der türkischen Botschaft über den Ring zum Stephansplatz. Auch in Vorarlberg kam es zu Protesten. Nach dem Putschversuch haben sich etwa 500 bis 600 Demonstranten vor dem türkischen Generalkonsulat in Wolfurt (Bez. Bregenz) versammelt. Die Presse
Der Präsident wurde in der Nacht am Istanbuler Flughafen von jubelnden Anhängern empfangen. Er kündigte ein hartes Vorgehen gegen die Aufständischen an. Er wolle die Armee "säubern". Reuters
Erdogan machte die Bewegung seines Intimfeindes Fethullah Gülen für den Putsch verantwortlich, die sich jedoch umgehend vom Aufstand distanzierte. Der Präsident wirft seinem einstigen Verbündeten vor, Parallelstrukturen im Staat errichten zu wollen und seinen Sturz zu betreiben. APA/AFP/ZAMAN DAILY/SELAHATTIN S
Die Putschisten erklärten unterdessen, dass sie weiter "entschlossen" kämpfen wollen. Sie riefen die Bevölkerung in einem E-Mail auf, zu ihrer eigenen Sicherheit in Räumen zu bleiben. Reuters
Bei Luftangriffen der Putschisten auf das Parlament in Ankara ist das Gebäude der türkischen Nationalversammlung stark beschädigt worden. Auf Fernsehbildern waren am Samstagmorgen Trümmer, zerborstene Scheiben und gravierende Schäden am Mauerwerk zu sehen. Reuters
Türkische Sicherheitskräfte hatten den von Putschisten festgehaltenen Armeechef Hulusi Akar (links) am Morgen befreit. General Akar sei an einen sicheren Ort gebracht worden, hieß es. Reuters
Während des Putsches war auch der Flugverkehr in Istanbul zum Erliegen gekommen. Mehrere Fluggesellschaften strichen ihre Türkei-Verbindungen. Das Außenministerium rief die Österreicher in der Türkei auf, angesichts des Militärputsches "an einem sicheren Ort" zu bleiben. Reuters
EU-Kommissionspräsident Donald Tusk hat sich besorgt über den Putschversuch in der Türkei und die Konsequenzen geäußert. Reuters
"Die Lage scheint unter Kontrolle, aber die Situation ist weit von einer Stabilisierung entfernt", sagte Tusk zum Abschluss des Asien-Europa-Gipfels (ASEM) in der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator. Reuters
Das türkische Militär hat in der Vergangenheit bereits mehrfach die Macht an sich gerissen, um die säkularen Grundlagen des Staates zu verteidigen. Reuters
Erdogan wurde 2003 Ministerpräsident und ist seit 2014 Staatsoberhaupt der Türkei. Er strebt eine größere Machtfülle für das Präsidentenamt an. Reuters
Es werden nichts Gutes auf Bulgarien zukommen, sagt der Regierungschef. Die Türkei werde die Millionen Flüchtlinge im Land bald nicht mehr verpflegen können.
Der Historiker Norman Stone verließ kurz vor der Ausreisesperre die Türkei. Er warnt vor der Instabilität des Systems Erdoğan und den Folgen für die Gesellschaft.