Experte: Putschisten kamen "Säuberungswelle" zuvor

Türkischer Patriotismus ist dieser Tage hoch im Kurs.
Türkischer Patriotismus ist dieser Tage hoch im Kurs.REUTERS
  • Drucken

Politikwissenschafter Ataç glaubt, dass nicht alle Putschisten Gülen-Anhänger sind, viele jedoch von Erdogan enttäuscht sind.

Von einem dilettantischen Putschversuch in der Türkei war die Rede, so schlecht geplant, dass mancher Beobachter gar von einer geplanten Aktion des Präsidenten Erdogan ausgingen, um die eigene Macht zu stärken. Dagegen gibt es allerdings viele Argumente.

Warum das Militär etwas überhastet agierte, dafür könnte es einen plauiblen Grund geben. Kurz vor dem Putschversuch sollen bereits Gerüchte über eine geplante Umstrukturierung im Militär und eine bevorstehende "Säuberungswelle" kursiert sein. Diese könnten die Putschisten dazu bewegt haben, ihren schon länger geplanten Coup vorzuziehen, sagt der Politikwissenschafter und Türkei-Experte Ilker Atac im Gespräch mit der Austria Presse Agentur (APA).

Sowohl im Justiz- als auch im Polizeiapparat habe Präsident Recep Tayyip Erdogan in den vergangenen Monaten bereits ähnliche Umstrukturierungen, sogenannte "Säuberungsaktionen" veranlasst. Ende vergangener Woche dürfte bekanntgeworden sein, dass der Machthaber nun eine solche Aktion auch innerhalb des Militärs "für Samstag oder Montag" geplant hatte, erklärt Atac, der an der Universität Wien lehrt.

Zwar hegten auch Teile der Militärkräfte ihrerseits schon längere Zeit einen Putschplan, dürften die Revolte aber angesichts der Gerüchte vorgezogen haben. Dies würde auch deren dilettantische Vorgehensweise erklären. Der Putschversuch wurde äußerst schnell niedergeschlagen, auch wurde der Präsident nicht festgenommen oder das Regierungsgebäude besetzt wie bei einem "klassischen Putsch".

Tausende von Gülen-Sympathisanten?

Der Behauptung, dass alle PutschistenErdogans Erzfeind, dem in den USA lebenden Fethullah Gülen, nahestehen sollen, widerspricht Atac. "Wie es aussieht, haben einzelne Putschisten ein Naheverhältnis zu Gülen", dies würde aber nicht auf alle zutreffen. Einige seien gegen Erdogan gewesen wegen seines nichtlaizistischen Politikverständnisses oder seines Demokratieverständnisses. "Meine Vermutung ist, dass innerhalb des Militärs ein Bündnis von unterschiedlichen Gruppen und Einzelpersonen zusammenkam", so Atac.

Die politisch immer instabiler werdende Lage in der Türkei wird nach Ansicht des Experten auch die Beziehungen zur Türkei beeinflussen. Denn nun würde sich auch die Frage stellen, ob das Flüchtlingsabkommen auch "legitim" und die Türkei tatsächlich ein sicheres Drittland sei. In einem Land mit einer sozialen und politischen Krise kann man wenig erwarten, dass Flüchtlinge ein faires Asylverfahren erwartet", sagt Atac. Bereits vor dem gescheiterten Putschversuch und der darauffolgenden Verhaftungswelle erhoben Menschenrechtsorganisationen schwere Vorwürfe gegen das türkische Asylregime. Teilweise sollen sogar Flüchtlinge in das Bürgerkriegsland Syrien zurückgeschoben worden sein, wie Amnesty berichtete.

(APA)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Grenzzaun zwischen Bulgarien und Türkei.
Außenpolitik

Bulgarien befürchtet nach Türkei-Putsch massive Flüchtlingswelle

Es werden nichts Gutes auf Bulgarien zukommen, sagt der Regierungschef. Die Türkei werde die Millionen Flüchtlinge im Land bald nicht mehr verpflegen können.
Themenbild
Außenpolitik

„Der Türkei steht eine Zeit des Chaos bevor“

Der Historiker Norman Stone verließ kurz vor der Ausreisesperre die Türkei. Er warnt vor der Instabilität des Systems Erdoğan und den Folgen für die Gesellschaft.
A young girl wears a head scarf depicting Turkish President Tayyip Erdogan during a pro-government demonstration in Ankara, Turkey
Außenpolitik

Abschied von Europa

Mit immer neuen Repressionen stößt Erdoğan die EU-Partner vor den Kopf. Österreich berief den türkischen Botschafter ein.
Ein Flüchtlingslager in der Türkei.
Außenpolitik

Ist die Türkei noch ein sicheres Drittland?

Die Verhängung des Ausnahmezustands ist kein Grund, den Flüchtlingspakt mit Ankara zu suspendieren. Doch die zugesagte Visumfreiheit wackelt.
Turkish President Tayyip Erdogan speaks during a news conference at the Presidential Palace in Ankara
Leitartikel

Der heuchlerische Kampf des einstigen Hoffnungsträgers Erdoğan

Die AKP-Regierung bemüht als Rechtfertigung für ihre rigiden Kollektivmaßnahmen das Feindbild Gülen. Dabei hat sie selbst diese Gruppe groß gemacht.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.