Erdoğan nimmt Sicherheitsapparat an die Kandare

A supporter of Turkish President Erdogan holds up a picture during a pro-government protest in Cologne
A supporter of Turkish President Erdogan holds up a picture during a pro-government protest in Cologne(c) REUTERS (THILO SCHMUELGEN)
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Täglich fallen dem Staatspräsidenten neue Strafmaßnahmen ein. Jetzt will er sich den Geheimdienst und die Stabschefs der Streitkräfte direkt unterstellen.

Ankara/Wien/Köln. Zwei Wochen nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei lässt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan keinen Tag ungenutzt, um seine Macht weiter auszubauen. In einem TV-Interview sagte er am Wochenende, er wolle den Geheimdienst MIT sowie alle militärischen Stabschefs direkt seiner Kontrolle unterstellen. Gleichzeitig ordnete er die Schließung aller Militärschulen an und entließ weitere 1400 Soldaten aus den Streitkräften.

Er werde ein „kleines Paket“ mit Verfassungsänderungen ins Parlament einbringen, kündigte Erdoğan dem Fernsehsender A-Haber an. Da dafür eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist, ist die Regierung auf die Unterstützung der Opposition angewiesen. Sollten die Maßnahmen verabschiedet werden, würden die militärischen Stabschefs und der Geheimdienst MIT dem Präsidenten unterstellt. Erdoğan sprach von „ernsthaften Fehlern“ in der Putschnacht beim Geheimdienst.

Diese Maßnahmen sind nach der Festnahme Tausender angeblicher Regierungsgegner sowie dem radikalen Umbau der Armee nach dem vereitelten Putsch ein weiterer Schritt Erdoğans, seine Kontrolle über Streitkräfte und Geheimdienste zu festigen. Militärschulen sollen geschlossen und durch eine Universität ersetzt werden.

Unterdessen warnte US-Geheimdienstdirektor James Clapper auf einer Sicherkonferenz in Colorado, dass Erdoğans Säuberungsaktionen in den Sicherheitsapparaten den Kampf gegen die Terrormiliz IS behindere: „Viele unserer Gesprächspartner sind entlassen oder verhaftet worden. Das ist ein Rückschlag und erschwert unsere Zusammenarbeit.“

„Frisches Blut“ für die Streitkräfte

Erdoğan hatte nach dem gescheiterten Militärputsch bereits angekündigt, „frisches Blut“ in die Streitkräfte zu bringen. Seit dem Putschversuch sind mehr als 60.000 Personen in Armee, Justiz, Verwaltung und im Bildungssystem suspendiert, entlassen oder festgenommen worden. Ein ähnliches Schicksal erlitten auch mehrere Journalisten. Nach Angaben eines Behördenvertreters fing der Geheimdienst MIT bereits lange vor dem Putschversuch verschlüsselte Nachrichten von Gülen-Anhängern ab. Dadurch habe Ankara die Namen von fast 40.000 Mitgliedern des Gülen-Netzwerks gehabt, darunter 600 Militärangehörige. Demnach begann der MIT bereits im Mai 2015 damit, über die Handy-App ByLock versendete Nachrichten zu entschlüsseln. Ankaras Bürgermeister Melih Gokcek rief die USA erneut auf, Gülen auszuliefern, wenn sie nicht als Drahtzieher des Putschversuchs verdächtigt werden wollten. Er sprach sich mit Nachdruck für die Wiedereinführung der Todesstrafe aus. Sollte dies zum Abbruch der EU-Beitrittsgespräche führen, sei ihm dies „egal“.

Unter dem Titel „Ja zur Demokratie – Nein zum Staatsstreich“ fand am Sonntag in Köln eine Großkundgebung statt, an der mehrere Zehntausend türkischstämmige Demonstranten teilnahmen. Das Bundesverfassungsgericht wies am Wochenende aus formalen Gründen einen Antrag der Veranstalter gegen einen Gerichtsbeschluss ab, der die Übertragung einer Ansprache von Erdoğan auf einer Großleinwand verboten hatte.

Kanzler Kern kontert

Bundeskanzler Christian Kern hat am Sonntag entrüstet auf Vorwürfe Erdoğans reagiert, wonach Türken in Österreich und Deutschland nicht demonstrieren dürften. Diese Behauptung sei „schärfstens zurückzuweisen“, schrieb er auf Facebook und vermutet einen Versuch Erdoğans, Emotionen in einem fremden Land zu schüren und Stimmungsmache zu betreiben.

In Österreich gelte das Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Demonstrationsrecht auch für Minderheiten und politisch Andersdenkende, genau das sei der Unterschied zur Situation in der Türkei. Wer aber andere bedrohe, Gewalt anwende, zur Bespitzelung aufrufe, Verhetzung betreibe oder sich nicht an die Regeln halte, gegen den würde mit voller Härte vorgegangen. Außerdem sei der Missbrauch religiöser Motive, um eine autoritäre Politik zu rechtfertigen, in Österreich nicht nur nicht üblich, sondern absolut inakzeptabel. (ag., red.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2016)

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