Kern: Kein EU-Beitritt der Türkei

Symbolbild EU-Beitritt der T�rkei / Symbol photo EU accession of Turkey
Symbolbild EU-Beitritt der T�rkei / Symbol photo EU accession of Turkey(c) www.BilderBox.com (BilderBox.com)
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Nicht nur wegen Erdoğan, vor allem wegen der „wirtschaftlichen Disparitäten“ sei die Türkei auf Jahrzehnte kein potenzieller Beitrittskandidat, sagt der österreichische Bundeskanzler im „Presse“-Interview.

Wien/Ankara. „Nein. Nicht jetzt und nicht in den kommenden Jahrzehnten.“ So antwortet Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) im Interview mit der „Presse“ auf die Frage, ob die Türkei noch ein potenzieller EU-Aufnahmekandidat sei. „Man muss da der Realität ins Gesicht sehen: Die Beitrittsverhandlungen sind derzeit nicht mehr als eine Fiktion. Europa braucht einen neuen Weg.“ Und das, präzisiert der Kanzler, habe nicht nur mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan und „den ganzen problematischen demokratiepolitischen Entwicklungen zu tun, sondern vor allem mit wirtschaftlichen Disparitäten“.

So gebe es diese auch schon im Hinblick auf den Zugang von Menschen aus südost- und zentraleuropäischen Staaten zum Arbeitsmarkt. „Und bei diesen Herkunftsländern ist der Abstand zum Lohnniveau noch vergleichsweise klein.“ Würde man nun die Tür für die Türken öffnen und ihnen die vier Grundfreiheiten der EU (für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen) einräumen, „dann würde das zu massiven wirtschaftlichen Verwerfungen führen, die in Europa nicht mehr vertretbar sind“, so der sozialdemokratische Bundeskanzler.

Die EU solle vielmehr nach einem neuen machbaren Weg der wirtschaftlichen Heranführung der Türkei suchen. Denn bei aller Kritik bleibe die Türkei natürlich ein wichtiger Partner in sicherheitspolitischen und migrationspolitischen Fragen. Dass die Türkei nun das Abkommen mit der Europäischen Union in der Flüchtlingspolitik aufkündigt, glaubt Christian Kern übrigens nicht: „Ökonomisch sitzen wir am längeren Hebel. Die Türkei ist von uns weitgehend abhängig.“ Europa sei jedenfalls kein Bittsteller gegenüber der Türkei. Deswegen hätten die Türken jeden Grund, vernünftig zu bleiben. „Sie haben im Moment natürlich ihre Emotionen. Aber wenn man sich das ganz nüchtern ansieht, dann hat die Türkei viel zu verlieren.“

Ankara hätte die im Deal vereinbarte Schengen-Visumliberalisierung für türkische Staatsbürger lieber heute als morgen. Dafür hat die Türkei die meisten Punkte auch erfüllt, es hakt aber an der von Brüssel geforderten Reform der Antiterrorgesetze. Nun kam zu dem bewaffneten Kurdenkonflikt auch noch ein gescheiterter Putsch dazu, sodass die türkische Regierung noch weniger Interesse an den Reformen zeigt.

Ohne die EU/Türkei-Vereinbarung, findet der Kanzler Österreichs, wäre die Schließung der Balkan-Route Makulatur. Das Problem würde dann zuerst nach Griechenland verlagert und später in Richtung Serbien und Ungarn. „Man kann dann nicht auf Dauer sagen: Das ist allein ein griechisches Problem. Das wird dann zum Problem für uns alle.“ Und was hält der Kanzler vom Mantra des ÖVP-Außenministers, Sebastian Kurz, die EU dürfe sich von der Türkei nicht erpressen lassen und müsse selbst ihre Außengrenze schützen? „Das ist eine gute Überlegung. Wie das allerdings in der Praxis funktioniert – das ist die herausfordernde Frage.“

Erdoğan: „Haben Allah – und Panzer“

Auch Erdoğan meldete sich gestern wieder zu Wort: Vom Westen sieht er sich nach dem gescheiterten Putschversuch im Stich gelassen: „Sie haben sich nicht auf die Seite der Führung dieses Landes gestellt, die sich gegen den Putsch gewehrt hat.“ Und zitierte einen Bekannten, der gemeint habe: „Sie (der Westen, Anm.) haben Panzer. Wir haben Allah – und Panzer.“

Seit dem gescheiterten Putsch in der Nacht auf den 16. Juli hat die türkische Regierung insgesamt 62.000 Staatsbedienstete suspendiert oder entlassen, wie Ministerpräsident Binali Yildirim am Mittwoch bekannt gegeben hat. Betroffen sind demnach vor allem Militärs und Lehrer. Als Drahtzieher des Putschs hat Ankara den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen ausgemacht, gegen sein Netzwerk gehen die türkischen Behörden nun rigoros vor.

Grünen-Chefin Eva Glawischnig ließ daher mit einem Vorschlag aufhorchen: Politisch Verfolgte sollen nach einer Einzelfallüberprüfung als Flüchtlinge in die EU kommen dürfen. ÖVP und FPÖ haben den Vorschlag abgewiesen, auch, weil türkisch-innenpolitische Schwierigkeiten dadurch nach Österreich getragen würden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.08.2016)

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