Irak: „Jesiden brauchen internationale Garantien“

(c) REUTERS (RODI SAID)
  • Drucken

Zwei Jahre nach den Massakern des IS fordert Jesidenaktivist Mirza Dinnayi Hilfe beim Wiederaufbau und eine Schutzzone.

Es waren schreckliche Eindrücke, die sich Mirza Dinnayi boten. „Als wir über das Tal flogen, sahen wir dort Leichen liegen. Auch tote Kinder. Neben den Leichen saßen verzweifelte Menschen, die kein Wasser und keine Nahrung mehr hatten.“ Mirza Dinnayi hat im Geiste noch heute die Bilder des Elends vor sich, das sich vor genau zwei Jahren in Nordiraks Sinjar-Bergen zugetragen hat: Zehntausende Angehörige der religiösen Minderheit der Jesiden flohen damals hinauf ins unwegsame Gelände, um dem Wüten der IS-Extremisten zu entgehen. Tage zuvor, am 3. August 2014, hatten die Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates die Stadt Sinjar erobert, das wichtigste Bevölkerungszentrum in Iraks Jesidengebieten. Sie nahmen Dorf um Dorf ein, töteten viele Männer und verschleppten Frauen und Kinder.

Der jesidische Aktivist Mirza Dinnayi organisierte damals Hubschrauberhilfsflüge zu den Eingeschlossenen in den Bergen. Wer die schrecklichen Wochen überlebte, konnte mittlerweile längst in Sicherheit gebracht werden. Doch Dinnayi zieht heute, zwei Jahre nach dem Drama von Sinjar, ein ernüchterndes Resümee: „Die Lage der Jesiden ist weiterhin sehr schlimm: 80 bis 90 Prozent der Vertriebenen konnten nach wie vor nicht in ihre Dörfer zurückkehren.“

Aus großen Teilen der Sinjar-Region, oder Shingal, wie sie die Kurden nennen, wurde der IS mittlerweile vertrieben. Kurdische Einheiten sind bis in den Süden der Berge vorgestoßen und haben die Stadt Sinjar zurückerobert. Doch südlich davon stehen noch die Einheiten des IS. Und sie kontrollieren die Millionenstadt Mossul weiter östlich. Viele Jesiden empfinden die Nähe des IS zu ihren Dörfern nach wie vor als Bedrohung.

Mirza Dinnayi
Mirza DinnayiArchiv

Unter dem falschen Vorwurf, sie seien Teufelsanbeter, wurden die Jesiden schon in der Vergangenheit von Extremisten verfolgt. Nun setzte sich der IS zum Ziel, die alte monotheistische Religion samt ihren Anhängern auszulöschen. Vor zwei Jahren wäre das den Jihadisten auch beinahe gelungen. Internationale Experten werten diese IS-Verbrechen als Genozid.

3700 Jesiden in Gefangenschaft

„Bisher wurden 33 Massengräber gefunden und mehr als 1250 Getötete identifiziert“, berichtet Jesidenaktivist Dinnayi. „Etwa 3700 Jesiden dürften sich nach wie vor in den Händen des IS befinden – vor allem Frauen und Kinder, aber auch bis zu 500 Männer“, sagt der Vorstand der Hilfsorganisation Luftbrücke Irak. Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Ich fürchte, dass die meisten dieser verschleppten Männer getötet worden sind.“ Denn seit April 2015 seien keine neuen Informationen über sie mehr nach außen gedrungen.

Die Frauen in Gefangenschaft werden von IS-Kämpfern systematisch missbraucht. Und die Jihadisten verbergen diese Verbrechen auch gar nicht: In ihrem Online-Propagandamagazin „Dabiq“ berichten sie offen über die „Wiedereinführung der Sklaverei“.

Was müsste geschehen, damit sich die Jesiden wieder sicher fühlen und in ihre früheren Wohnorte zurückkehren? „Wir brauchen internationale Garantien und eine militärische Schutzzone der internationalen Gemeinschaft“, fordert Dinnayi. Schon eine einzige Militärbasis der USA oder europäischer Staaten in den Jesidengebieten würde das Sicherheitsgefühl der Menschen verbessern. Zudem sei ein vom Westen organisierter Wiederaufbau der zerstörten Dörfer und Städte nötig – und ein Selbstverwaltungsmodell für die Jesiden.

Innerkurdische Machtpolitik

Offiziell gehört Sinjar nach wie vor zur irakischen Provinz Ninive. Zugleich ist es gemäß irakischer Verfassung eines der sogenannten umstrittenen Gebiete, für die noch festgelegt werden soll, ob sie an Nordiraks Kurdenregion angeschlossen werden. Im Zuge der Gefechte gegen den IS sind in Sinjar mittlerweile Peshmerga der Kurdenregion eingerückt.

Doch sie haben Konkurrenz: In Sinjar stehen auch Kämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die in der Türkei einen Untergrundkrieg führt – und der Volksverteidigungseinheiten (YPG), der syrisch-kurdischen Schwesterorganisation der PKK. Es waren auch YPG und PKK, die vor zwei Jahren als erste den Jesiden zu Hilfe eilten und für die bedrängten Menschen einen Fluchtkorridor freikämpften.

Heute fürchten viele Jesiden, in den Mühlen der innerkurdischen Machtpolitik zerrieben zu werden.

Zur Person

Mirza Dinnayi ist Vorsitzender der Organisation Luftbrücke Irak. Er organisierte vor zwei Jahren Hilfsflüge zu den eingeschlossenen Jesiden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.08.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.