In Aleppo droht ein humanitäres Desaster

Lange Schlangen vor den Bäckereien. In dem von Rebellen kontrollierten Osten Aleppos stellen sich Menschen an, um Brot zu ergattern.
Lange Schlangen vor den Bäckereien. In dem von Rebellen kontrollierten Osten Aleppos stellen sich Menschen an, um Brot zu ergattern.(c) KARAM AL-MASRI / AFP
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Den Menschen in der umkämpften Stadt Aleppo gehen Medikamente und Wasser aus. Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen schlagen Alarm.

Es ist eine Schlacht, deren Ausgang weitreichende Konsequenzen haben wird. Denn in den schweren Gefechten in und rund um die nordsyrische Stadt Aleppo entscheidet sich: Können sich die Rebellen im Norden Syriens weiterhin gegen das Regime des Machthabers Bashar al-Assad behaupten? Oder gelingt es den Regierungstruppen, die wichtigste Bastion der Aufständischen zu zerschlagen? Deshalb werfen beide Seiten alles in die Schlacht, was sie aufzubieten haben. Regime und Rebellen zogen in den vergangenen Tagen im Einsatzgebiet Tausende neue Kämpfer zusammen. Für die Zivilbevölkerung hat diese weitere Eskalation verheerende Auswirkungen. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef gab nun bekannt, dass wegen der Gefechte zwei Millionen Menschen keinen Zugang mehr zu frischem Trinkwasser haben. Internationale Helfer warnen eindringlich vor einer humanitären Katastrophe in der Stadt.

Vor dem Krieg zählte Aleppo mit mehr als zwei Millionen Einwohnern neben der Hauptstadt Damaskus zu den größten Städten Syriens. Heute, nach vier Jahren heftiger Kämpfe, gleichen weite Teile von Aleppo einer Ruinenlandschaft. Viele der Kulturdenkmäler in der alten Metropole, wie etwa der historische Basar, wurden verwüstet.

Entscheidungsschlacht in geteilter Stadt

Im Westteil Aleppos stehen Truppen des Assad-Regimes. Der Ostteil wird von verschiedensten Rebelleneinheiten kontrolliert. Ende Juli gelang es den Regierungssoldaten mithilfe russischer Luftunterstützung zunächst, den Ostteil völlig einzukesseln. Doch am vergangenen Wochenende starteten die Aufständischen mithilfe kampfstarker jihadistischer Einheiten einen Gegenangriff. Dabei schafften sie es offenbar, erneut eine kleine Bresche in den Belagerungsring zu schlagen. Jetzt bereiten die Truppen des Regimes mit Unterstützung iranischer Eliteeinheiten, der libanesischen Schiitenmiliz Hisbollah und schiitscher Milizen aus dem Irak eine Großoffensive vor, um die Aufständischen abermals zurückzudrängen.

Der UN-Nothilfekoordinator Stephen O'Brien setzte in der Nacht auf Mittwoch den UN-Sicherheitsrat in New York über die verheerende Lage in Aleppo in Kenntnis. Mehrere UN-Institutionen für humanitäre Hilfe fordern eine achtundvierzigstündige Feuerpause, um die Menschen in der Stadt mit dem Notwendigsten versorgen zu können. Und auch zahlreiche andere Organisationen schlagen angesichts der immer prekärer werdenden Situation der Zivilisten Alarm.

„In den Krankenhäusern gehen die Medikamente zu Ende“, warnt Evita Mouawad von Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Telefongespräch mit der „Presse“. Ärzte ohne Grenzen unterstützt zehn Krankenhäuser in Aleppo, acht davon im von den Rebellen kontrollierten Osten der Stadt. „Unsere bisher letzte Medikamentenlieferung traf Ende April in diesen Spitälern ein“, erzählt Mouawad, die Expertin für humanitäre Hilfe im Nahen Osten ist. Für Ende Juli war die nächste Lieferung geplant. Doch sie kam nicht ans Ziel. Denn durch die Gefechte und die Vorstöße der Regierungstruppen wurde die sogenannte Castello Road unterbrochen – eine der letzten Nachschublinien, die in den belagerten Osten Aleppos geführt hatte.

Wegen der immer heftigeren Gefechte ist zuletzt auch die Zahl der Verletzten gestiegen. „Aus den Krankenhäusern wird uns berichtet, dass sie im Schnitt jetzt 50 Verwundete pro Tag zu versorgen haben“, sagt MSF-Expertin Mouawad. „Dafür werden die medizinischen Vorräte nicht mehr lang reichen.“ Vier der Spitäler, die von Ärzte ohne Grenzen unterstützt werden, seien durch Bombardements und Beschuss beschädigt worden. „Sie können in der jetzigen Lage auch nicht instandgesetzt werden“, erzählt Mouawad. Sie fordert die Streitparteien dazu auf, sich endlich an die internationalen Regeln für bewaffnete Konflikte zu halten und keine Krankenhäuser mehr anzugreifen.

Ärzte müssen im Dunklen arbeiten

Durch die Belagerung ist im Ostteil Aleppos auch Treibstoff knapp geworden. Und damit wird auch Elektrizität knapp, denn sie gewinnt man mittlerweile nur mehr über Dieselgeneratoren. „In einigen der Spitäler müssen die Ärzte in der Nacht die Patienten im Dunkeln versorgen, weil es keinen Strom mehr gibt“, schildert die MSF-Expertin. Ohne Strom kann auch kein Wasser aus dem Boden gepumpt werden, und die Lieferungen von sauberem Wasser in den Osten Aleppos sind seit etwa zehn Tagen unterbrochen. „Wir fürchten, dass deshalb Krankheiten ausbrechen könnten“, sagt Mouawad. Das würde die humanitäre Lage in Aleppo noch weiter verschlimmern.

Nur ein Ende der Kämpfe könnte die Situation der Menschen in der Stadt entschärfen. Doch danach sieht es derzeit nicht aus. Im Gegenteil. Denn Regime und Rebellen rüsten zur alles entscheidenden Schlacht um Aleppo.

AUF EINEN BLICK

In der strategisch wichtigen Stadt Aleppo im Norden Syriens rüsten Regime und Rebellen zur Entscheidungsschlacht. Ende Juli war es dem Regime gelungen, den von den Aufständischen kontrollierten Osten der Stadt völlig einzukesseln. Am Wochenende schlugen die Rebellen mithilfe kampfstarker jihadistischer Einheiten eine kleine Bresche in den Belagerungsring. Die sogenannte Castello Road, eine der letzten Nachschublinien in den Osten Aleppos, ist aber nach wie vor unterbrochen. Den Zivilisten gehen Medikamente und sauberes Wasser aus. Hilfsorganisationen warnen vor dem Ausbruch von Krankheiten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2016)

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