Türkei: Der Rundumschlag gegen das Gülen-Netzwerk

(c) APA/AFP/BULENT KILIC
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Die türkische Justiz weitet die Ermittlungen gegen die islamische Gülen-Bewegung auf die Privatwirtschaft aus und verlangt zweimal lebenslänglich für den Prediger.

Wien/Ankara. Ein Monat ist seit dem gescheiterten Putsch in der Türkei vergangen, und Ankara knöpft sich immer noch unermüdlich das Netzwerk von Fethullah Gülen vor. Die regierende AKP macht den islamischen Prediger für die blutige Putschnacht verantwortlich. 35.000 Menschen nahmen die Behörden bisher fest, weitere Zehntausende sind entlassen worden. Gnade werde er jedenfalls nicht walten lassen, sagte Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf dem 15. Jahrestag der AKP am Wochenende. Die bisherige Vorgangsweise der Regierung lässt auch keinen Zweifel daran.

Privatwirtschaft. Bis dato haben die Entlassungen und Verhaftungen den Staatsapparat betroffen, nun konzentrieren sich die Ermittler auf das weit verzweigte Gülen-Konsortium. Am Dienstag fanden Razzien in 44 Firmen statt, anschließend wurde gegen 120 Unternehmer Haftbefehl erlassen. Das Gülen-Netzwerk erhält sich durch Spenden von Anhängern sowie durch eigene Geschäfte, etwa im Bankensektor. Die der Bewegung nahestehende Bank Asya ist bereits kurz nach dem Putschversuch praktisch zerlegt worden. Dabei gaben sich bei der Eröffnung der Bank in den 1990er-Jahren AKP-Granden wie Erdoğan noch die Klinke in die Hand, mittlerweile ist die AKP-Gülen-Freundschaft freilich Geschichte.

Auch auf internationaler Ebene soll das Finanznetzwerk des Predigers zerschlagen werden. Medienberichten zufolge haben die Ermittler in 34 Ländern Geldflüsse geortet. Ankara hat sich demnach bereits an das OECD-Gremium zur Bekämpfung von Geldwäsche gewandt und das Einfrieren der betreffenden Konten verlangt.

Medien. Die Gülen-Bewegung betreibt ein Mediennetzwerk – beispielsweise die auflagenstarke Zeitung „Zaman“ –, das nun vor dem Ende steht. Insbesondere im Medienbereich ist aber deutlich zu erkennen, dass die Regierung allgemein regimekritische Journalisten und Publikationen im Visier hat. Am Dienstag hat ein Istanbuler Gericht die Schließung der Tageszeitung „Özgür Gündem“ angeordnet. Die Justiz wirft der Zeitung vor, der verbotenen kurdischen PKK nahezustehen; etliche Redakteure müssen sich vor Gericht verantworten. Darüber hinaus ergingen Haftbefehle an zwei „Hürriyet“-Journalisten. „Hürriyet“ ist keine Gülen-Publikation.

Bereits vor Jahren hat der bekannte Journalist Ahmet ?ık vor dem klandestinen, streng islamisch ausgerichteten Gülen-Netzwerk gewarnt und ist dafür angeklagt worden. Damals unterstützten sich AKP und Gülen noch. Erdoğan müsse daher gemeinsam mit dem Prediger vor Gericht gestellt werden, sagt ?ık heute: Die AKP sei schließlich für den Aufstieg der Bewegung mitverantwortlich. Was die frühere Unterstützung betrifft, hat sich die Partei – bis auf einige Worte des Bedauerns von Erdoğan – wenig selbstkritisch gezeigt.

Bildung. Das islamische Netzwerk hat jahrzehntelang über Schulen und Nachhilfeinstitute Mitglieder rekrutiert; diese werden nun schrittweise geschlossen. Die AKP nutzt die vorhandene Infrastruktur und verwandelt viele ehemalige Gülen-Institutionen in Imam-Hatip-Schulen. Damit weitet die Regierung die Ausbildungsmöglichkeiten für Imame und Prediger aus – und gleichzeitig auch ihren Einfluss im Bildungsbereich. Präsident Erdoğan ist ebenfalls Absolvent einer Imam-Hatip-Schule.

International. Für die Massenverhaftungen ist Ankara scharf kritisiert worden, vereinzelt kommt in Europa neuerdings auch Verständnis auf, zumal die Putschnacht brutal war, und das Netzwerk Gülens undurchsichtig ist. An der Kritik an Erdoğans autoritärem Auftreten hält die EU weiterhin fest. „Ein Monat ist seit dem Putschversuch vergangen und kein westlicher Staatschef hat uns besucht“, so der Präsident am Dienstag. Unterdessen hat sich Besuch aus den USA angekündigt: Vizepräsident Joe Biden soll noch im August in die Türkei kommen. Höchstwahrscheinlich wird Gülen ein Thema sein, denn er lebt im Exil in Pennsylvania.

Gülen. Ankara verlangt erbittert die Auslieferung des Predigers. Die Justiz veröffentlichte nun auch die Anklageschrift gegen ihn: Wegen schwerwiegender krimineller Aktivitäten wie etwa der Bildung eines terroristischen Vereines verlangt die Staatsanwaltschaft zweimal lebenslänglich sowie zusätzlich 1900 Jahre Haft. Türkische Regierungsvertreter werden Biden bei seinem Besuch wohl auch vermitteln, dass sich Gülens größtes Schulnetzwerk in den USA befindet – und von Steuergeldern mitfinanziert werde. Für eine Bestandsaufnahme des Netzwerkes in den USA hat Ankara den bekannten kanadischen Anwalt Robert Amsterdam engagiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.08.2016)

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