Merkels Stiefkinder im Nordosten der Republik

German Chancellor Merkel and Liskow visit a market in Greifswald
German Chancellor Merkel and Liskow visit a market in Greifswald(c) REUTERS (STEFANIE LOOS)
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Mecklenburg-Vorpommern – jenes Bundesland, in dem die Kanzlerin ihren Wahlkreis hat – wählt am Sonntag einen neuen Landtag. Für SPD und Union sieht es gar nicht gut aus. Es droht ein Exodus zur rechtspopulistischen AfD.

Berlin/Schwerin. Vor Angela Merkels Wahlkreisbüro in Stralsund, der letzten Stadt vor der Insel Rügen, lag im Mai ein Schweinskopf. Die angehängte Botschaft wurde nicht veröffentlicht, dürfte aber nicht nett gewesen sein. Absender: unbekannt.

Damit ist über die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern eigentlich schon alles gesagt. Anders ausgedrückt: Die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin treibt die Wähler der AfD in die Arme und könnte dazu führen, dass SPD und CDU am Sonntagabend keine Mehrheit mehr in Schwerin haben.

Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Es stimmt, dass die Wahl in eine Zeit fällt, in der Merkel umstritten ist wie selten zuvor. Aber ihre Asylpolitik ist nur ein Teil der Wahrheit – der zweite. Das Grundproblem in Mecklenburg-Vorpommern ist die Demografie. Nirgendwo sonst ist Deutschland so dünn besiedelt. Zur Wende lebten hier noch 1,9 Millionen Menschen, auf einem Gebiet, das fast so groß ist wie Belgien. Jetzt sind es nur noch 1,6 Millionen. In der zweiten Reihe, zwischen den Ballungsräumen, der Ostseeküste und der Mecklenburgischen Seenplatte, wirkt das Land wie leergefegt.

Weniger Einwohner bedeuten weniger Einnahmen. Die Landesregierung sah sich deshalb zu Reformen gezwungen. Gemeindeverwaltungen, Gerichte und Theater wurden zusammengelegt, Busverbindungen gestrichen. Die Landesfinanzen sind heute vorbildlich, aber die neuen, schlanken Strukturen haben auch ihren Preis.

Vor allem in jenen Gebieten, die nicht vom Tourismus leben, hat sich Unzufriedenheit breitgemacht. Nein: Frust. Nach vielen Jahren des Existenzaufbaus stellten sich viele Menschen die Frage: „Was bleibt uns?“, analysierte der Politikwissenschaftler Dierk Borstel, der selbst aus Mecklenburg-Vorpommern stammt, im „Tagesspiegel“. In der DDR wurden sie zur Staatsgläubigkeit erzogen, jetzt sollen sie sich in der Wettbewerbsgesellschaft behaupten. Damit haben viele Probleme. Die Jungen sind in Berlin, in Hamburg, in München. Und die, die geblieben sind, fühlen sich alleingelassen, vergessen, stiefmütterlich behandelt. Auch von Berlin.

Das Erbe der DDR

In diese Verunsicherung hinein erzählt die AfD um Spitzenkandidat Leif-Erik Holm, einen ehemaligen Radiomoderator, ihre Geschichte von der drohenden Überfremdung Deutschlands. Und obwohl es im Land kaum Flüchtlinge gibt und der Ausländeranteil unter vier Prozent liegt, ist die Asylpolitik zum bestimmenden Wahlkampfthema geworden. Die Menschen hier, sagt Bertold Meyer, parteiunabhängiger Bürgermeister der 650-Einwohner-Gemeinde Bollewick in der Mecklenburgischen Seenplatte, seien es nicht gewöhnt, mit anderen Kulturen umzugehen. „In der DDR durften sie das nicht.“ Für dieses Unbehagen, diese Angst solle man sie nicht verurteilen. Aber dann habe eine Partei begonnen, damit Stimmung zu machen. „Und das ist schlimm.“

Allerdings auch erfolgsversprechend. Die AfD wird am Sonntag auf über 20 Prozent kommen, auf Kosten aller anderen Parteien: Die SPD um Ministerpräsident Erwin Sellering dürfte – laut Umfragen – zwar vorn bleiben, aber auf circa 26 Prozent abstürzen, so tief wie nie. Der Linkspartei werden nur noch 14 Prozent prognostiziert. Die Grünen müssen um ihren Verbleib im Landtag zittern. Und auch die rechtsextreme NPD könnte an der Vier-Prozent-Hürde scheitern. Allerdings glauben nicht wenige, dass sie dann in der AfD aufgeht.

Und dann wäre da noch Merkels CDU, die Gefahr läuft, von der AfD auf Platz drei verdrängt zu werden. Zuletzt lagen die beiden Parteien gleichauf bei 22 Prozent. Der Sicherheitswahlkampf, den Spitzenkandidat Lorenz Caffier seiner Partei verordnet hat, entfaltete wenig bis gar keine Wirkung und nützte eher noch der AfD.

Bei Wahlkampfeinsätzen versuchte Merkel diese Woche noch einmal alles, um die Schmach abzuwenden. Auch um ihrer selbst willen – als Kanzlerin und als Ikone der lokalen CDU. Denn in Vorpommern, zwischen Rügen und Greifswald, hat sie ihren Wahlkreis. Obwohl Merkel eigentlich aus Brandenburg stammt. Aber dort wollte man sie nicht haben, als sie 1990 in die Politik ging. Im Nordosten hatte die CDU damals einen Platz frei. Merkel versuchte es – und gewann seither jedes Mal das Direktmandat für den Bundestag. Sieben Mal in Folge.

„Unser Anspruch als CDU ist es, zur Mitte hin zu integrieren“, sagte die Kanzlerin diese Woche bei einem Wahlkampfauftritt in Schwerin. Die CDU müsse um die Wähler kämpfen – aber ohne dabei den Kernbestand ihrer Programmatik aufzugeben. Dazu zählt Merkel die soziale Marktwirtschaft, die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU und in der Nato sowie „eine klare Absage“ an Fremdenhass und Antisemitismus. „Da können wir keine Kompromisse machen.“

Kommt ein Dreierbündnis?

Parteipolitisch könnten in Mecklenburg-Vorpommern künftig allerdings viele Kompromisse nötig sein, nämlich dann, wenn SPD und CDU ihre Mehrheit verlieren. Die Alternative wären Dreierbündnisse abseits der AfD, mit der niemand zusammenarbeiten will: Eine „Kenia“-Koalition wie in Sachsen-Anhalt, aber mit einem roten Ministerpräsidenten. Oder Rot-Rot-Grün. Beides setzt voraus, dass die Grünen im Landtag bleiben.

Und wenn nicht? Dann bliebe nur noch eine rot-schwarze Minderheitsregierung, denn mit den Linken kann wiederum die CDU nicht. SPD und Union würden somit weitermachen wie bisher. Nur ohne Mehrheit. Es wird also nicht leichter werden. Nicht in Schwerin, und nicht für Angela Merkel.

AUF EINEN BLICK

Landtagswahl. In Mecklenburg-Vorpommern wird am Sonntag ein neuer Landtag gewählt. 1,3 Millionen Menschen dürfen wählen, das sind nur rund zwei Prozent aller Wahlberechtigten in Deutschland. Aber die Wahl hat einen hohen symbolischen Wert. Denn Kanzlerin Angela Merkel, die wegen ihrer Flüchtlingspolitik („Wir schaffen das“) schwer in der Kritik steht, hat in Mecklenburg-Vorpommern ihren Bundestagswahlkreis. Umfragen zufolge werden die Regierungsparteien in Schwerin, SPD und CDU, stark verlieren, möglicherweise sogar die Mehrheit. Nutznießer ist die AfD. Die Rechtspopulisten könnten Merkels CDU von Platz zwei verdrängen. Die SPD um Ministerpräsident Erwin Sellering sollte vorn bleiben, aber mit dem schlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2016)

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